ein!«, hatte Sigrun gesagt und Gunter hatte zustimmend genickt, der blöde Kerl. Er hätte ihn in diesem Moment umbringen können. Aber dann hätte er ja gegen sich ermitteln müssen, und das wollte er dann doch nicht. Erschöpft hatte er resigniert.
Die Möbel waren schon aufgeteilt und im Container verstaut und Siegrun war bis zum Abflug nach Johannesburg zu Gunter nach Bebenhausen gezogen.
Wilde war mit Leib und Seele Hauptkommissar bei der Mordkommission in Tübingen und versuchte, die knappe Personaldecke mit Überstunden auszugleichen.
Die Wohnungsplanung hatte er nur am Rande wahrgenommen, was sich im Nachhinein als Fehler herausgestellt hatte. Ihm hatte ihre gemütliche Dreizimmerwohnung im Altbau mit Blick auf den Österberg gereicht.
Die Schlüsselübergabe und Wohnungsabnahme der neuen Wohnung erledigte er mit Siegrun zusammen, da sie als Miteigentümerin eingetragen war.
Siegrun hastete an diesem Tag von einem Raum in den anderen. Sie wollte die Veranstaltung so schnell wie möglich hinter sich bringen.
»Reisende soll man nicht aufhalten.« Das waren seine letzten Worte gewesen, als die Tür hinter seiner Ex zufiel.
Dass die Kloschüsseln im Bad und im Gästeklo wegen Lieferengpässen fehlten, nahm er nur am Rand wahr. Bad- und Sanitärhändler Bernd Kümmerle würde auf jeden Fall bis zum Einzug liefern, wurde ihm versichert.
Als er mutterseelenallein in der leeren Wohnung stand, wurde ihm bewusst, dass er keine Ahnung hatte, ob seine Frau ein Umzugsunternehmen beauftragt hatte, geschweige denn, wer das sein konnte. Und sie zu fragen, dazu hatte er wirklich keine Lust mehr.
Am selben Abend öffnete er in seiner alten Wohnung die Flasche Barolo, die ihnen die Schwiegereltern, jetzt Ex-Schwiegereltern, zur Hochzeit geschenkt hatten, und goss sich ein Glas ein. Es sollte nicht bei einem Glas bleiben.
Dazu ließ er die Playlist aller alten Songs der »EAV«, der österreichischen Band »Erste Allgemeine Verunsicherung«, in Dauerschleife laufen. Er gehörte zur Fangemeinde der ersten Stunde und hatte sie schon mehrfach live gesehen.
So gerüstet, durchforstete er das Internet nach Umzugsunternehmen in Tübingen. »Umzüge Federleicht« fiel ihm ins Auge. Nomen est omen, dachte er, schon leicht angeheitert. Vor seinem geistigen Auge sah er Sofas, Stühle, Tische und Betten durch magische Kräfte leicht wie Federn in seine neue Wohnung im 4. Stock schweben. Die würde er anfragen!
Er wachte am nächsten Morgen mit einem dicken Kopf auf und rief trotzdem sofort bei der Firma an.
»Was wollet Se, Herr Wilde, Standard- oder Komfortumzug?«, hatte ihn der schwäbische Grieche bei einem Ortstermin zwei Tage später in seiner alten Wohnung gefragt. Dabei hielt er ein Klemmbrett mit einem Formular in der Hand, auf dem er sich Notizen machte.
Panagiotis glich mit seinem grau melierten Haar und dem dunklen Teint dem griechischen Reeder Aristoteles Onassis, bis er den Mund aufmachte und schwäbisch schwätzte. Vielleicht hörte Panagiotis die Panik in Wotan Wildes Stimme und hatte Mitleid oder er war geschmeichelt, weil ein echter Kommissar der Mordermittlung seine Firma ausgesucht hatte. Seine Visitenkarte hatte ihm Wotan gleich zu Anfang ihrer Begegnung in die Hand gedrückt. Wie auch immer.
Die Firma Federleicht schob den Miniumzug zwischen zwei größere Aufträge. Der Kostenvoranschlag inklusive vier Stunden Auf- und Abbau, Wegpauschale und Arbeitslohn betrug 1.200,00 Euro. Wotan war einverstanden. Man vereinbarte einen Termin am nächsten Mittwoch.
Wotan packte die Umzugskisten in schweißtreibender Nachtarbeit selbst und stapelte sie im Wohnzimmer. Jeder Karton war sorgfältig mit den neuen Zielräumen beschriftet. Auch auf den Möbeln klebte so ein knallgelbes Post-it. Es musste alles seine Ordnung haben, dachte er, als er sein Werk am Dienstagabend betrachtete.
Panagiotis, Aristos und ein Student mit Rastalocken namens Ben arbeiteten an jenem Mittwochvormittag organisiert Hand in Hand, während die ganze Zeit griechische Musik und deutsche Schlager aus einem uralten Kofferradio dudelten. »Weiße Rosen aus Athen«, dieser Ohrwurm hatte sich bei Wilde hartnäckig festgesetzt.
Die alte Wohnung war schneller leer als erwartet. Für den Nachmittag hatte er die Reinigungsfirma Tip-Top bestellt.
Dann war er mit dem Fahrrad vorausgefahren, um beim Einzug mitzuhelfen.
Wilde steckte das Kettenschloss durch die Speichen des Vorderrades, schlang den Rest um einen Laternenpfosten und ließ das Schloss einrasten. Er hob den Kopf und sah, dass sich die Autokolonne auf der Brücke in Bewegung setzte.
Skeptisch beobachtete Wotan Wilde die dunkle Wolkenfront, die vom Neckar herüberzog. Der Wind hatte aufgefrischt und im nächsten Augenblick setzte unvermittelt ein heftiger Hagelschauer ein.
Wilde tastete suchend nach der Kapuze an seiner roten Outdoorjacke. Er fühlte nur die Druckknöpfe am Kragen. Die Kapuze steckte abgezippt und trocken in seinem Rucksack. Und der war in irgendeinem Umzugskarton verpackt. Klasse! Eine Erkältung passte jetzt nicht in seinen Zeitplan.
Wilde zog den Kopf ein und den Reißverschluss seiner Jacke bis zum Kinn. Vergeblich, ein Schwung der kalten Eiskörnchen war schon in seinem Kragen gelandet und ließ ihn erschauern.
»Merde!«, fluchte er halblaut vor sich hin. Die Hagelkörner prasselten gegen seine nackten Knie. Als durchtrainierter Sportler trug er natürlich kurze Radlerhosen. Heute hatte er sich für Kniestrümpfe entschieden. Socken trug er sonst nur beruflich in den braunen Budapestern, den geflochtenen Halbschuhen.
»Herr Wilde, Sie können das Rad im Keller abstellen!«, hörte er jemanden hinter sich sagen. Ein kräftiger Mann in dunkelgrünem Overall stand vor der Haustür. Er hatte eine schwarze Wollmütze mit dem weißen Aufdruck »Shietwetter« tief ins Gesicht gezogen. Neben seinen klobigen Arbeitsschuhen stand ein Plastikeimer, aus dem mehrere Rollen Müllbeutel ragten. Das runde Gesicht war von Sommersprossen übersät, was dem Mann einen kindlichen Ausdruck verlieh. Wilde sprintete über den Fußweg zum Hauseingang.
In diesem Augenblick hörte der Hagelschauer schlagartig auf und zaghafte Sonnenstrahlen blinzelten aus den grauen Wolken. Er versuchte in den paar Sekunden, sich an den Namen dieses freundlichen Zeitgenossen zu erinnern. Er bildete sich viel auf sein Personengedächtnis ein.
Gesichter konnte er sich merken wie kein anderer in seinem Team. Aber bei Namen, da musste er sich Eselsbrücken bauen.
Das ging manchmal nach hinten los, wenn er den als Waldvogel abgespeicherten Herrn Adler Herr Sperling nannte und den als gekröntes Haupt Herrn König als Herr Kaiser ansprach.
Diese partielle Gedächtnisschwäche hatte er von seinem Vater Tristan Wilde geerbt. Der konnte damit umgehen, hatte er doch als Strafverteidiger stets die Akten mit den Namen der Prozessbeteiligten vor sich liegen.
Der Vorname Wotan war auf seinem Mist gewachsen. Seine Mutter wollte ihn Franz nennen. Sie war nicht wie ihr Mann der Wagnerschen Musik verfallen und bevorzugte eher die Komponisten Mozart und Lehár.
Der Spitzname »Wilder Wotan« war im Gymnasium entstanden und hielt sich hartnäckig über die Jahre hinweg. Ursache war die Sage und das Bild von Friedrich Wilhelm Heine »Wotans wilde Jagd«, das sie im Deutschunterricht bei Frau Professor Doktor Schönhaas lesen und interpretieren mussten.
Auch im Kommissariat wurde er hinter seinem Rücken so genannt. Das wusste er, seitdem er zufällig seine Assistentin Bernadette von Hohenstein und Oberkommissar Robert Altmann in der Kantine belauscht hatte. Wie der Name seinen Weg vom Gymnasium ins Kommissariat gefunden hatte, würde er auch noch einmal ermitteln. Das hatte er sich spaßeshalber vorgenommen.
»Den ›Wilden Wotan‹ sollten wir heute nicht ansprechen, der ist mit dem linken Fuß aufgestanden«, teilte Bernadette damals dem dicken Robert, dem Senior bei der Mordermittlung, am Salatbuffet mit. Der brummte wissend und lud sich eine Extraportion Kartoffelsalat auf den Teller. Wilde verfolgte den Gedanken nicht weiter. Er musste sich jetzt auf den Umzug und die neuen Mitbewohner konzentrieren.
Er wusste sicher, dass der Mann im Overall der Hausmeister und Ansprechpartner für kleinere Reparaturen war. Der war schon vor einem Monat im