Maria Stich

Tübinger Fieberwahn


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nach der Taschenlampe und leuchtete nach unten. Schwer atmend stand er an der Kante und betrachtete sein Werk.

      Der plumpe Körper von Werner Wüst lag unnatürlich verrenkt im leise plätschernden Bach am Fuße des Hanges. Bauschutt bedeckte ihn zur Hälfte wie ein bleiches Leichentuch. Der Angreifer wischte sich über das schweißbedeckte Gesicht, als wolle er die dunklen Gedanken vertreiben. Er holte sein Smartphone aus der Hosentasche und machte ein Foto.

      »Das war Nummer eins!«, tippte er in die App und schickte die Nachricht mit Bild ab. Dann machte er sich an den Abstieg zum Parkplatz. Er warf einen gehetzten Blick zum Mond, der den Weg so weit erhellte, dass er ihn schemenhaft erkennen konnte. Bald stand er vor Wüsts Porsche Cayenne S, der silbermetallicfarben im Mondlicht glänzte.

      Er würde den Wagen irgendwo im Wald abstellen und anzünden. Für einen kurzen Moment war der schwere Druck des Verlustes von ihm gewichen. Er fühlte sich leicht ums Herz und konnte ein Lächeln nicht unterdrücken.

      »Ba Ba Banküberfall, das Böse ist immer und überall!«, rockte es durch die nächtliche Stille der Wohnung. Als Klingelton war der Hit der »EAV« eher ungewöhnlich.

      Die Schnarchgeräusche verstummten mit einem letzten Seufzer. Wotan drehte sich auf dem aufblasbaren Gästebett ächzend von der Seite auf den Rücken. Verschwommen sah er, dass der Projektionswecker mit roten Ziffern 4.31 Uhr auf die Zimmerdecke warf.

      Die »EAV« sang mit voller Lautstärke weiter.

      »Alexa, mach das Licht an!«, befahl er mit schlaftrunkener Stimme.

      »In diesem Raum befindet sich noch kein Endgerät, das ich einschalten kann. Soll ich die Lampe im Nebenraum einschalten?«, fragte die digitale Sprachassistentin monoton. »Alexa, einschalten!« Wotan war angesäuert. Die Deckenbeleuchtung im Flur ging an und ein Lichtstrahl fiel durch die halb geöffnete Tür.

      Wotan Wilde gähnte, räkelte sich und blinzelte ins Licht. Er überlegte einen Augenblick, orientierte sich und kam zu dem Schluss, dass heute Donnerstag sein müsste und er in seiner neuen Wohnung war.

      Er entdeckte das Smartphone auf dem Umzugskarton, der seit gestern als Nachttisch diente. »Küche«, stand mit dickem Filzer auf der Seite. Die Nachtkästchen hatte seine Frau mit dem Bett in den Container nach Kapstadt gepackt. Wilde stöhnte. Hier herrschte noch Chaos pur.

      Er rollte sich zur Seite, stützte sich auf den linken Ellenbogen und griff nach dem vibrierenden Gerät.

      »Ja!«, bellte er in den Hörer.

      »Guten Morgen, Wotan. Hier ist Bernadette!«, flötete seine Assistentin gut gelaunt.

      »Mensch, Bernadette, weißt du, welche Uhrzeit wir haben?«, stöhnte Wotan.

      »4.30 Uhr!«, sagte die und lachte. »Hier ist die Zeitansage! Ich hätte eine schöne Leiche für dich! Haben Jogger beim Frühlauf entdeckt.«

      »Die hätte auch noch ein paar Stunden warten können. Termine hat die Leiche ja nicht mehr!«, stellte Wotan grummelnd fest. Er setzte sich ganz auf und hielt nach seinen Hausschuhen Ausschau.

      »Wer weiß! Ich konnte noch nicht mit ihr reden!«, scherzte Bernadette.

      »Na gut! Kannst du mich abholen? Am Alten Güterbahnhof 17, seit gestern«, informierte er Bernadette.

      »Was hast du denn geträumt?«, fragte Bernadette.

      »Spinnst du?«, fragte er sie. »Was soll die Frage?«

      »Du weißt doch, dass das in Erfüllung geht, was man in der ersten Nacht in einer neuen Wohnung träumt!«, teilte Bernadette mit.

      »So ein Quatsch! Ich bin doch nicht mehr vier! Hol mich lieber ab! Ich komm runter, kann eine halbe Stunde dauern. Bring Kaffee mit! Und tschüss!« Wilde warf das Smartphone auf die Bettdecke und ließ sich noch einmal kurz aufs Kopfkissen zurückfallen.

      Er hatte nichts geträumt. Allein die Begegnung gestern Abend mit seinem Hausgenossen, Ambrosius Ackermann, der in der Wohnung über ihm residierte, war Albtraum genug gewesen. Er hätte sich für das erste Zusammentreffen auch einen netteren Anlass gewünscht.

      Er hatte gestern Abend um 18.00 Uhr auch einen Engpass gehabt, als er sein großes Geschäft nicht mehr zurückhalten konnte. Aber dieser verfluchte Kümmerle, der Sanitärfritze, hatte die Kloschüsseln noch immer nicht installiert. Lieferengpässe!

      In seiner Not schnappte er sich einen Piccolo und klingelte bei Saskia Klaschke unten im zweiten Stock.

      Nachdem sich in der Wohnung nichts gerührt hatte, war er in den fünften Stock gefahren und hatte bei Ackermann Sturm geläutet. Sofort wurde die Tür aufgerissen.

      Aber anstelle einer Begrüßung sah er nur noch den Rücken eines schwergewichtigen Mannes. Er trug ein blütenweißes Unterhemd und eine golden gestreifte Boxershorts.

      »Wird aber auch Zeit, dass der Anzug kommt. Das war das letzte Mal, dass ich in der City Reinigung war. Hängen Sie den Anzug an die Garderobe!«, blaffte der Dicke und verschwand im Bad. Jetzt pressierte es aber wirklich!

      Wilde orientierte sich kurz. Neben dem Bad, das musste das Gästeklo sein. Er stürmte hinein und erleichterte sich. Schöne Kloschüssel, dachte er. Dann spülte er ausgiebig und trat frohgemut in den Gang. Im Bad hörte er den Fön.

      Wilde überlegte kurz. Sollte er noch etwas sagen? Aber so unfreundlich, wie der Mann gewesen war, hielt er das nicht für nötig. Er öffnete die Wohnungstür, schlich in den Hausflur, zog die Tür vorsichtig ins Schloss und lief leichtfüßig die Treppe hinunter. Den Sekt nahm er wieder mit.

      Würde später mal eine Anekdote wert sein. Mein Toilettengang beim Herrn Ackermann. Hoffentlich funktionierte die Lüftung im Gästeklo, dachte er.

      Der Kommissar hatte bei der Erinnerung an dieses kleine Abenteuer sofort gute Laune bekommen und musste grinsen.

      Er fuhr sich durch seinen verstrubbelten dunklen Haarschopf. Jetzt musste er aber Gas geben. Er schwang die Beine von der Matratze und blickte an sich hinunter. Er hatte im Jogginganzug geschlafen. Sogar seine Socken hatte er anbehalten.

      Das war gestern aber auch ein anstrengender Tag gewesen. Außerdem war es kalt in der Wohnung. Das lag wohl an der blöden Balkontür, die nicht richtig schloss. Er musste sich auf seinem improvisierten Nachtkästchen abstützen, um von der niedrigen Matratze hochzukommen. Er war doch nicht mehr der junge Hupfer, für den er sich immer hielt.

      »Merde!«, fluchte er, ganz seinem französischen Großvater geschuldet. Alle Knochen taten ihm von der gestrigen Schlepperei weh.

      »Alexa, mach das Rollo im Schlafzimmer auf!« Wie von Geisterhand fuhr das Rollo des raumhohen Schlafzimmerfensters nach oben.

      Draußen erkannte man einen fahlen Mond über der Skyline des Neubauviertels. Es begann leicht zu dämmern. Ein paar dunkle Wolkenfetzen zogen über den Himmel. Zwei Kräne ragten dunkel empor. Nur in wenigen Fenstern der Nebenhäuser brannte schon Licht.

      Wilde gab die Suche nach seinen Hausschuhen auf. Barfuß tappte er durch den Flur. Er fühlte sich komisch und fremd an, der erste Morgen in der neuen Wohnung.

      Im Flur grüßte ein buntgefiederter Tukan aus einem farbenprächtigen Blütendschungel. Riesige Schmetterlinge saßen auf Fantasieblüten und Kolibris flatterten dazwischen. Die Tapete hatte Siegrun noch ausgesucht. Er hätte japanische Schwertkämpfer bevorzugt, konnte sich aber nicht durchsetzen. Im Endeffekt war es ihm auch egal gewesen.

      Wilde schlängelte sich an den Umzugskisten vorbei ins Bad, erleichterte sich ins Bidet und starrte auf die leere Stelle, die für die Kloschüssel vorgesehen war. Zusammengeknülltes Zeitungspapier ragte aus dem Loch im Boden.

      »Merde!« Wilde drehte den Wasserhahn auf. Wie ein kleiner Wasserfall plätscherte das kalte Wasser in eines der beiden ovalen Granitbecken. Das zweite war für seine Frau gedacht gewesen. Aber das Kapitel Ehe war ja jetzt vorbei. Momentan hatte er weder Lust noch Gelegenheit auf eine