Roman Klementovic

Wenn die Stille schreit


Скачать книгу

nicht verängstigen zu lassen. Vielmehr machte ihr das drohende Unwetter Sorgen.

      Sie versperrte mir den Weg. »Bleib hier!«

      »Schatz, wie stellst du dir das vor?«

      »Es ist deine Firma!«

      »Trotzdem kann ich nicht einfach so mir nichts dir nichts zu Hause bleiben und …«

      »Mein Gott, sie werden doch wohl auch mal einen Tag lang ohne dich auskommen.«

      »Du weißt ganz genau, dass das nicht so einfach geht.«

      Natürlich wäre es an einem normalen Tag kein Problem gewesen. Nur dass eben ausgerechnet heute kein normaler Arbeitstag sein würde. Aber das konnte ich Natalie nicht sagen. Weil es doch eine Überraschung werden sollte.

      »Da!« Natalie zeigte zum Küchenfenster. »Es fängt schon an.«

      Tatsächlich rieselten in diesem Moment die ersten feinen Flocken vom wolkenverhangenen Himmel. Es sah so friedlich aus. Ich konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass sich daraus ein heftiger Sturm entwickeln sollte.

      »Ich muss jetzt wirklich los.«

      Ich stellte die leere Kaffeetasse in den Geschirrspüler und küsste erst Natalies zarte Lippen und dann ihren wunderschönen Babybauch. Ich wandte mich ab, kehrte noch einmal um und küsste ihn ein zweites Mal.

      Im Grunde kann ich unser Glück immer noch nicht fassen.

      Jahrelang erklärten uns die Ärzte, dass wir beide gesund seien und es keine medizinische Ursache gebe. Und dennoch wollte es einfach nicht klappen. Wir hatten die Hoffnung längst aufgegeben und uns mit unserem kinderlosen Dasein arrangiert. Hatten uns erfolgreich eingeredet, dass es ja auch durchaus mit Vorteilen verbunden sei.

      So können wir wenigstens reisen, wohin und sooft wir wollen.

      Genau, die schlaflosen Nächte ersparen wir uns auch.

      Ja, und wir können uns voll und ganz einander widmen.

      Aber jetzt, da Natalie bereits Mitte 40 ist, und ich unaufhaltsam auf meinen 50er zusteuere, ist es tatsächlich passiert: Natalie ist schwanger. Und wir werden bald zu dritt sein.

      Es ist ein Wunder.

      »Pass gut auf euch zwei auf!«, sagte ich heute Morgen, ignorierte einen letzten halbherzigen Versuch von Natalie, mich zum Bleiben zu überreden, und stürzte aus dem Haus.

      Auf dem Weg in die Stadt musste ich immerzu grinsen. Weil ich daran dachte, wie glücklich Natalie sein würde, wenn ich es ihr endlich offenbarte. Dass ich ein Jahr lang einen Teil der Geschäfte an Friederike, eine meiner treuesten Mitarbeiterinnen, übergeben würde. Dass ich längst alles in die Wege geleitet hatte. Und ich ab der Geburt unseres kleinen Engels viel öfter zu Hause sein würde. Weil wir es uns finanziell locker leisten können. Und es Wichtigeres gibt als die Agentur. Ausgerechnet heute sollte jedoch eine große Übergabe stattfinden – im Übrigen der Grund, weshalb ich nicht einfach zu Hause bleiben konnte.

      Der Arbeitstag zog sich deshalb auch länger als erwartet und im Laufe des Nachmittages wurde der Schneefall zunehmend dichter. Wind kam auf und wurde immer stärker, die Temperatur sank. Bald war es klirrend kalt, und gewaltige Böen trieben die weißen Massen vor sich her.

      Mein Heimweg vom Büro dauert normalerweise keine 45 Minuten. Heute habe ich über drei Stunden gebraucht. Der Stadtverkehr hatte sich binnen kürzester Zeit zu einem einzigen Riesenstau entwickelt. Überall zuckten Blaulichter und heulten Sirenen, nichts ging mehr. Als ich es dann endlich aus der Stadt hinaus geschafft hatte, glaubte ich, das Schlimmste hinter mich gebracht zu haben. Ich hatte mich getäuscht. Auf dem Land waren einige Streckenabschnitte nur schwer passierbar. Andere Straßen waren ganz gesperrt, weshalb ich einige Umwege einschlagen musste. Hinzu kamen das Eis, das unter der Schneeschicht lauerte, und die wuchtigen Sturmböen, die den Wagen auf die Gegenspur drückten. Vereinzelt säumten liegen gebliebene Autos die Fahrbahn. Abgebrochene Äste lagen kreuz und quer. Einen musste ich eigenhändig in den Straßengraben ziehen, um weiterfahren zu können. Kurz darauf wurde das Schneegestöber so dicht, dass ich nur noch eine flirrende weiße Wand im Lichtkegel der Nebelscheinwerfer ausmachen konnte und eine Pause einlegen musste. Alleine für die letzten zehn Kilometer habe ich mehr als eine Stunde gebraucht.

      Unser Haus liegt gut zwei Kilometer vom nächsten Dorf entfernt. Als wir es vor knapp zehn Jahren kauften, sahen Natalie und ich das als Vorteil. Heute rächte sich diese Abgeschiedenheit jedoch. Die Straßen hier draußen sind nicht nur schmal und holprig, sondern bislang auch von den Schneeräumdiensten völlig vernachlässigt worden.

      Aber jetzt habe ich es ja endlich nach Hause geschafft!

      Ich sollte heilfroh darüber sein. Doch meine Anspannung will sich einfach nicht legen. Ganz im Gegenteil. Mein ungutes Gefühl wächst, wenn ich an das Telefonat mit Natalie vor einer knappen Viertelstunde zurückdenke.

      »Wo bleibst du denn?«, wollte sie wissen.

      »Ich bin gleich bei der Brücke. Mach dir keine Sorgen!«

      »Tu ich aber.«

      »Wie geht’s dem kleinen Engel?«

      »Sie tritt ständig. Weil sie ihren Papa vermisst.«

      »Sag ihr, ich bin gleich da.«

      »Du hättest heute zu Hause bleiben sollen.«

      Ja, hätte ich. »Bist du schon im Bett?«

      »Nein, im Wohnzimmer. Ich habe Kerzen angezündet und es mir gemütlich …«

      Plötzlich ein Klirren. Gefolgt von Stille. Dann ein Rumpeln. Und wieder Stille.

      »Was war das?«, wollte ich wissen.

      »Keine Ahnung. Hat sich angehört, als wenn ein Fenster kaputt gegangen wäre. Kein Wunder bei dem Sturm.«

      »Ach du meine Güte!«

      »Ich sehe mal nach.«

      »Aber bitte pass auf!«

      »Gib du lieber auf die Straße acht!«

      »Soll ich vielleicht …?«

      »Du sollst heil nach Hause kommen! Und deshalb mach ich jetzt Schluss. Bis gleich.«

      Das ist keine 15 Minuten her.

      Wieso also ist das Haus jetzt finster?

      Ich löse den Sicherheitsgurt. Und plötzlich passieren zwei Dinge gleichzeitig: Zum einen erfasst eine kräftige Windböe den Wagen und rüttelt ihn durch. Zum anderen glaube ich, eine Bewegung im Küchenfenster wahrzunehmen. Aber ehe ich mir sicher bin, ist der Schatten verschwunden.

      2

      »Schatz?«, rufe ich, als ich ins stockdunkle Haus trete.

      Ich bekomme keine Antwort.

      Ich schließe die Tür, sperre die Kälte aus. Taste nach dem Lichtschalter, drücke ihn.

      Nichts passiert.

      Ich drücke ihn noch zweimal.

      Es bleibt finster.

      »Schatz, wo bist du?«

      Keine Reaktion.

      »Natalie?«

      Draußen heult der Wind. Das Haus knarrt und ächzt an allen Ecken und Enden. Ein metallisches Scheppern erinnert mich daran, dass ich endlich die Regenrinne reparieren sollte. Und von meiner Kleidung tropft es auf die Bodenfliesen. Aber ansonsten ist es völlig still. Und so dunkel, dass ich kaum die eigene Hand vor meinem Gesicht erkennen kann.

      Die nassen Gummisohlen meiner Schuhe quietschen, als ich mich den Flur entlang bis zum Wohnzimmer vortaste. Vom Türrahmen aus versuche ich auch hier, das Licht einzuschalten.

      Aber ich bleibe von Finsternis umgeben.

      Erst jetzt kommt mir die Idee, mein Mobiltelefon als Taschenlampe zu benutzen. Ich greife die Taschen meines