das habe ich nie behauptet.«
»Das nicht, ist aber so angekommen … Bis morgen.«
Als sie die Haustür aufschloss, glaubte sie noch, dass der Tag für sie einigermaßen gelaufen war, aber bereits im Treppenhaus war es damit aus. Sie wollte es doch besser machen. Gelassen bleiben. Nicht mehr so überreagieren, wenn sich irgendwer oder irgendwas gegen sie richtete, das hatte ihr die Polizeipsychologin eingetrichtert. In Braunschweig wollte sie ihren inneren Frieden finden, und dann das: Nicht einmal acht Stunden im Dienst, und sie hatte sich bereits mit zwei Kollegen angelegt …
Im Hausflur war es so dunkel wie in einem Dachsbau. Hella drückte den Lichtschalter und lief auf den Stapel Zeitungen zu, der am Fuß der Holztreppe lag. Den Aufmacher konnte sie geradeso lesen. »Straßenherz at his best«, darunter das halbseitige Foto einer bemalten Fassade. Sie blieb stehen, griff sich eins der Blätter und starrte auf einen Elefanten, der dicke blutrote Tränen weinte.
»Sind Sie nicht die Neue aus dem dritten Stock? Ich bin Frau Voglmaier und wohne gleich nebenan«, krähte eine abgemagerte Siebzigerin, die plötzlich hinter ihr stand und ihr ein eiskaltes Händchen anbot.
»Angenehm, Budde, Kriminalhauptkommissarin«, gab Hella zurück. Sie hatte die Hände nicht gezählt, die sie an dem Tag bereits geschüttelt hatte.
Frau Voglmaier musterte sie mit großen Augen. »Sie sind von der Polizei?«, entfuhr es ihr ungläubig. Aus dem freundlichen wurde ein eher verlegenes Lächeln. »Na, da kann uns in diesem Haus ja nichts mehr passieren.« Auf einmal schien sie es eilig zu haben. »Dann werden wir uns jetzt öfter sehen. Entschuldigen Sie, aber ich muss los. Einen schönen Abend wünsche ich.«
Mit dem sicheren Gefühl, dass auch die Bekanntschaft mit dieser Frau zu keiner wahren Freundschaft führen würde, wandte sich Hella wieder dem Treppenhaus zu. Die einzig wahren Freunde warteten im dritten Stock auf sie: ihre weiche Couch und der volle Kühlschrank.
2. Das Herz der Straße
Die Nacht hatte den August auf April heruntergekühlt. Das störte Hella nicht, tropische Hitze konnte sie ohnehin nicht ausstehen. Als sie am Dienstagmorgen um 8.28 Uhr im Kommissariat ihren Dienst antrat, störte sie etwas anderes: Es gab Arbeit, aber einer hatte sich bereits vor ihr bedient.
»Tom hatte gerade in der Gegend zu tun, als die Meldung einging, Hella, und da habe ich ihn losgeschickt, damit möglichst schnell jemand den Tatort sichert. Das soll keineswegs bedeuten, dass …«
Hella spürte, wie sich ihre Härchen auf den Unterarmen aufstellten. Sie war hier zwar neu, aber nicht erst seit gestern bei der Polizei.
»Tom hat die Lage im Griff, darauf kannst du dich verlassen. Ich sag ihm Bescheid, dass du gleich da bist.«
Sie mied es, Senge in die Augen zu sehen, nahm ihm stumm die Schlüssel zu ihrem Einsatzwagen aus der Hand. »Ich darf doch, oder wollen Sie mir zuerst noch das Ausparken beibringen?«, wollte sie fragen. Aber die Psychologin in ihrem Hinterkopf verhinderte das rechtzeitig. Außerdem sollte sie so schnell wie möglich los, um nicht noch mehr Zeit verstreichen zu lassen. Als Leitende Ermittlerin musste sie von Anfang an alle Fäden in der Hand halten.
Senge gab ihr nur wenige Fakten mit auf den Weg. Offenbar war ein Sprayer auf gewaltsame Weise zu Tode gekommen. Der Fundort der Leiche befand sich in der Weststadt. Eine Gegend mit langweiligen Mietskasernen, wie Hella von früher wusste. Häuserwände fand man dort allerdings genug. Nach weniger als fünfzehn Minuten stand sie vor einem der unzähligen vierstöckigen Bauten mit schmutzig grauer Fassade, der sich von den benachbarten nur durch die Hausnummer unterschied. Durch die ganze Siedlung zogen sich sonnenverbrannte Rasenflächen, die feucht im blassen Morgenlicht schimmerten. Auf dem Fußgängerweg vor dem Haus mit der Nummer acht drängten sich die Anwohner mit gezückten Smartphones, jederzeit bereit, alles mit dem Rest der Welt zu teilen, was sie mit der Linse einfingen. In den meisten Fenstern hingen Gaffer, obwohl es zur Straße hin nichts zu sehen gab, denn der Fundort der Leiche befand sich vor der fensterlosen Nordseite.
Tom und die Streife hatten den Tatort notdürftig abgesperrt und hielten die Leute auf Abstand. Die KTU war noch nicht vor Ort. Der Tote lag zusammengekauert unter einem halb fertigen Bild inmitten von Farbdosen und einer schwarzen Strumpfmaske, die Tom ihm vom Gesicht gezogen hatte. Die Hände des Toten steckten in Latexhandschuhen. Offensichtlich war er darauf bedacht gewesen, keine Spuren zu hinterlassen und nicht mit den Farben in Berührung zu kommen, um sich nicht zu verraten. Die Hose war allerdings voller Flecken.
»Mit einem spitzen Gegenstand erstochen, soweit ersichtlich, aber von der Waffe haben wir bisher keine Spur«, erklärte Tom. »So leid einem der Kerl auch tun kann, jedenfalls hat er seine letzte Fassade ruiniert. Es war nur eine Frage der Zeit, wann einer der Brüder die Quittung bekommen würde. Allein was es kostet, die Fassaden von den sogenannten Kunstwerken zu reinigen. Vielleicht hat ihn der Hausbesitzer erwischt, und dem ist dann …«
»Das Messer aus der Tasche gesprungen … So könnte es gewesen sein. Zum jetzigen Zeitpunkt können wir nichts ausschließen.« Hella beugte sich über die gekrümmte Leiche. Die Totenstarre hatte bereits eingesetzt. Die Tat musste vor Stunden passiert sein. Genaueres würde sie von der Gerichtsmedizin erfahren.
»Kennt jemand den Toten? Wer hat die Leiche gefunden und wann? Papiere? Geldbörse, Autoschlüssel?«, fragte sie.
Tom schüttelte den Kopf. »In seiner Kleidung war nichts zu finden. Nur die Farbdosen und eine Dose Pfefferspray in der Gesäßtasche. Aber die ist nicht zum Einsatz gekommen. Wahrscheinlich ist er überrascht worden.«
»Oder er kannte den Täter.«
»Ja, oder er kannte den Täter«, echote Tom. »Der Zeitungsjunge hat gegen sechs etwas Verdächtiges gesehen, sich aber zuerst nicht getraut nachzuschauen. Die Streife alarmierte er erst eine Viertelstunde später. Senge hat mich losgeschickt, weil Sie noch nicht da waren …«
»Sie hätten mich abholen können«, erwiderte Hella.
»Ich wohne nicht weit von hier, und ich dachte, dass jemand so schnell wie möglich den Tatort sichern sollte.«
Ein akzeptabler Grund. Also hielt sie besser den Mund. Außerdem waren die Kollegen der KTU soeben eingetroffen und begannen mit der großräumigen Absperrung des Tatortes. Jemand tippte ihr auf die Schulter.
»Darf ich vorstellen«, sagte Senge, »unser Neuzugang Kriminalhauptkommissarin Budde, Staatsanwalt Klapproth.« Das Eindrucksvollste an dem Staatsanwalt war sein Schnäuzer, dessen zwei Enden wie die Hörner eines Stiers in die Höhe stachen.
»Willkommen«, sagte Klapproth. »Endlich eine Frau, die den Männerladen aufmischt. Ich mag starke und resolute Frauen.« Er scannte sie von oben bis unten, worauf er ihr ungeniert zuzwinkerte.
Warum liefen ihr keine normalen Männer über den Weg? Entweder zimmerten sie Intrigen oder fielen mit anzüglichen Blicken über sie her, dachte Hella. Im Gegensatz zu Senge und Tom Seipold würde ihr der Staatsanwalt allerdings nur selten über den Weg laufen.
Die Leiche wurde entfernt, und nachdem die Lage des Körpers bei Auffindung markiert und alle nötigen Untersuchungen durchgeführt worden waren, fotografierte ein KTU-Mitarbeiter die besprühte Fassade von allen Seiten. Das weit aufgerissene Maul eines Hais kam auf den Betrachter zu, erschreckend naturalistisch. Der Körper war nur angedeutet.
»Dazu ist er offenbar nicht mehr gekommen … Von hinten erstochen, ein feiges Verbrechen«, wandte sich der Kollege von der KTU an Hella, ohne dabei seine Arbeit zu unterbrechen. »Nicht einen müden Cent haben die Kollegen bei ihm gefunden. Raubmord? Wer raubt schon einen Sprayer aus? Da ist nichts zu holen, genauso wenig wie bei den Leuten, die hier leben. Soviel ich weiß, hat die Wohnungsgesellschaft wieder einmal die Mieten erhöht. Vielleicht hat das Graffiti damit zu tun, soll einen Miethai darstellen oder so ähnlich. Erinnert mich an …«
»Straßenherz?«, dachte Hella laut. Das Elefantenbild auf der Titelseite des Werbeblättchens fiel ihr ein. »Aber hat er nicht erst vor ein paar Tagen …?«
»Der ist unberechenbar. Manchmal hört und sieht man fast