Mick Schulz

Wenn Löwen weinen


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gewachsene Person in grüner Berufskleidung ihre Arbeit.

      »Kommissarin Budde?«, hallte es zu ihnen herüber.

      »Ja. Ich bringe Ihnen …«

      »Frau Jelinski?«

      Désirée Jelinski hatte es die Sprache verschlagen.

      »Ja«, übernahm Hella.

      »Einen Moment, bitte. Bleiben Sie da stehen, wo Sie sind.«

      Der Geruch nach Desinfektionsmittel überflutete alle anderen Eindrücke. Als sie vortreten durften, war die Leiche mit einem weißen Tuch bedeckt, ringsherum befanden sich noch blutverschmiertes Schneidewerkzeug und Organschalen.

      »Warum haben Sie sich nicht vorher gemeldet?«, murrte die Ärztin. »Wir können schließlich nicht zaubern.« Sie hatte sich an das Kopfende des Tisches begeben und zog jetzt langsam das Tuch von der Leiche.

      Hella blieb aus gutem Grund an der Seite der Professorin, schließlich konnte man nie wissen.

      »Ich habe Ihnen doch gleich gesagt, das ist nicht mein Mann«, fuhr die jedoch gleich gereizt auf. »Wir können gehen!« Ohne sich noch einmal umzusehen, rannte sie los, an den Stahlregalen vorbei in Richtung Ausgang. Dr. Weinreb hielt Hella an der Schulter zurück und drückte ihr etwas Rundes, Hartes in die Hand.

      Kurz bevor Désirée Jelinski die Schwingtür erreicht hatte, holte Hella sie ein. »Ich habe etwas für Sie«, sagte sie ganz ruhig und zeigte ihr, was die Ärztin ihr mitgegeben hatte. »Er steckte am Mittelfinger des Toten. Darin ist eine Gravur.«

      Der bestürzte Blick der Frau verriet, dass sie begriffen hatte. Den Ehering ihres Mannes mit zitternden Händen umfassend, gab sie ihren inneren Widerstand auf: »Ja, er ist es, Bernhard Jelinski, mein Mann.«

      3. Versteckspiel

      Die Frau, die Hella noch vor einer halben Stunde so selbstbewusst gegenübergetreten war, kauerte jetzt wie ein verstörtes Kind auf dem Beifahrersitz ihres Einsatzwagens. Medizinische und psychologische Hilfe hatte sie abgelehnt, sie wolle jetzt nur noch nach Hause. Hella hatte getan, was getan werden musste, Senge die neuesten Ergebnisse mitgeteilt und die KTU zu der Adresse der Jelinskis bestellt.

      Dort öffnete ihnen eine Haushälterin die Tür zu einer riesigen Altbauwohnung, bei deren Ausstattung nichts dem Zufall überlassen worden war. Kunst an den Wänden und in allen Ecken. Ein Kapitalverbrechen passte eindeutig nicht hierein, dachte Hella. In einem der hohen Räume machte die Professorin halt und sank kraftlos auf eine muschelförmige Couch.

      »Ich möchte jetzt allein sein«, sagte sie kleinlaut.

      Nachvollziehbar, doch Hella hatte einen Fall zu lösen und ihr lief die Zeit davon. »Es bleiben viele unbeantwortete Fragen, Frau Dr. Jelinski. Bislang ist nur die eine Identität Ihres Mannes geklärt. Wir wissen, dass er der Museumsdirektor Bernhard Jelinski war, aber das schließt nicht aus, dass er auch der Street-Art-Künstler Straßenherz gewesen sein könnte.«

      Désirée Jelinski zuckte mit den Schultern. »Ich wüsste zwar nicht, wie ich Ihnen helfen könnte, aber bitte, wenn es sein muss, stellen Sie Ihre Fragen.« Sie schenkte sich Mineralwasser ein, das in einer Karaffe auf dem polierten Marmortisch stand.

      »Hat Ihr Mann selbst gemalt?«

      In dem Moment hallte ein Gong durch die Räume.

      »Das werden die Kollegen von der Kriminaltechnischen Untersuchung sein. Der Durchsuchungsbeschluss folgt. Ich gehe davon aus, dass Sie einverstanden sind.« Hella wollte die Tür öffnen, aber die Haushälterin kam ihr zuvor.

      »Glauben Sie etwa, ich hätte etwas damit zu tun?«, entgegnete die Witwe mit müder Empörung.

      »Mit Glauben hat das nichts zu tun. Wir machen nur unseren Job. Aber Sie haben meine Frage noch nicht beantwortet.«

      »Ja, er malte als Hobby. Er bekam manchmal solche Anwandlungen, als fühlte er sich verpflichtet, selbst zum Pinsel zu greifen.« Offenbar hielt sie nichts von den künstlerischen Ambitionen ihres Mannes, wie unschwer herauszuhören war. »Verstehen Sie mich nicht falsch. Er war ein genialer Aussteller, niemand konnte Kunstwerke besser präsentieren und den Leuten näherbringen als er. Aber man sollte seine eigenen Grenzen kennen.«

      »Wo hat er gemalt, und was?«, fragte Hella.

      Désirée Jelinski erhob sich und öffnete eine der Flügeltüren, die direkt vom Wohnsalon ausgingen. Sie führte in eine Art Atelier, anscheinend Jelinskis häuslicher Arbeitsraum. In einer Ecke befanden sich Staffelei und Malwerkzeug. Aber es roch weder nach frischer Farbe noch nach Terpentin, und die Bilder, die an der Wand hingen oder daran lehnten, hatten mit denen, die Hella von Straßenherz kannte, nichts zu tun: Landschaften und Stadtansichten, langweilig und fast laienhaft gemalt. »Wann hat Ihr Mann das letzte Mal den Pinsel in die Hand genommen?«

      »Ist bereits länger her. Ich hatte immer die stille Hoffnung, dass er endlich damit aufhört.«

      Vielleicht spielte er Versteck, dachte Hella. »Hatten Sie eine gute Ehe?«

      Doch die Antwort blieb aus. Désirée Jelinskis Augen füllten sich mit Tränen, das Ende ihrer Belastbarkeit war offenbar erreicht. Hella entschloss sich, die Befragung abzubrechen, als einer der Kollegen der KTU im Raum stand.

      »Habt ihr etwas gefunden, das auf Straßenherz hindeutet?«, fragte sie.

      Ein Kopfschütteln war die Antwort.

      »Gehören weitere Räume zur Wohnung, Kellerräume zum Beispiel?«, wandte sie sich an die Witwe.

      »Ja, ein Keller und ein Abstellraum im Speicher. Meine Haushaltshilfe wird Ihnen die Schlüssel dafür geben.«

      Nachdem die Kollegen von der KTU auch Speicher und Keller durchsucht hatten, mussten sie ohne nennenswerte Ergebnisse abziehen. Doch in Jelinskis Büro im Herzog Anton Ulrich-Museum wartete neue Arbeit auf sie.

      Um 12.34 Uhr stellte Hella den Einsatzwagen auf dem Hof des Kommissariats ab und ging die wenigen Schritte in die Innenstadt zu Fuß. Die Mittagspause bot Gelegenheit, sich die Braunschweiger Luft um die Nase wehen zu lassen und irgendwo etwas zu essen. Stimmengewirr, Alltagstreiben auf dem Markt. Die Sonne blinzelte zwischen den Wolken hindurch. Diese Seite der Altstadt hatte Hella immer besonders geliebt, die Burg Dankwarderode, den Dom. Auf der anderen Seite waren jetzt die Schlossarkaden dazugekommen, das verrückte Happy Rizzi House … Man konnte es spüren, Braunschweig hatte sich erneuert, war mehr als die legendäre Löwenstadt mit den Denkmälern, sie war im einundzwanzigsten Jahrhundert angekommen, sie sprudelte, diese Stadt.

      Der Kohlmarkt lag vor ihr mit dem alten Brunnen. »Siehst du, ich habe dir gesagt, du musst aufpassen. Jetzt ist sie kaputt.« Da war sie wieder, die Stimme ihrer Mutter mit dem griechischen Akzent, der zu ihr gehörte und den sie nie verloren hatte. Es war hier am Kohlmarkt gewesen, Hella hatte sich ihre neue Strumpfhose an den rauen Mauersteinen zerrissen. Sie hatte ihre Mutter geliebt, sehr sogar, aber es war nicht genug gewesen. Als sie plötzlich krank und immer dünner wurde, hatte ihr Vater zu ihr gesagt: »Du musst jetzt ganz besonders lieb zu Mami sein, Prinzessin, dann wird sie wieder gesund.« Doch Hella war nicht lieb genug gewesen, denn plötzlich lag Mami im Sarg, die Sonne war aus ihrem Gesicht verschwunden, die ihr Dad immer darin gefunden hatte. Dass er seine Kathyna, sein Kathrinchen, so früh an den Himmel abgeben musste, hatte er nie verwunden, und Hella, dass ihre Liebe nicht gereicht hatte, um ihre Mami zu retten. War die Idee wirklich so gut gewesen, zurückzukehren und die alten Erinnerungen wiederaufleben zu lassen?

      »Der schönste Platz in ganz Braunschweig …«

      Die Stimme kannte sie. Kollege Fischbach saß kauend an einem der runden Bistrotische auf der Schattenseite des Kohlmarktes. Er schien sich vor allem von Baguettes zu ernähren.

      »Ist er es oder ist er es nicht?«, fragte er.

      Hella war klar, was er meinte. »Museumsdirektor ja, aber ob er Straßenherz ist, hat sich bisher nicht bestätigt.« Sie setzte sich zu ihm, obwohl sie lieber allein geblieben wäre. Aber in seiner Gegenwart würde sie sich beim Essen weniger beobachtet