Mick Schulz

Wenn Löwen weinen


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zu haben. Er war also nicht in der Stadt gewesen, als Jelinski starb.

      »Was wir überprüfen werden«, sagte Kai.

      »Gehöre ich jetzt zu den Verdächtigen, oder was?«, bekamen sie noch von Indigo-Jay zu hören, bevor sich Hella verabschiedete: »Ab jetzt sind Sie Zeuge, und als solcher halten Sie sich bitte zur Verfügung.«

      »Warum sollte ein Kollege von Straßenherz ihn hinterrücks erstechen?«, fragte Hella mehr sich als Kai Fischbach, der neben ihr her trottete.

      »Neid ist ganz klar ein starkes Motiv«, erwiderte er.

      »Ich habe ja nicht ausgeschlossen, dass jemand an seiner Stelle ins Rampenlicht rücken wollte. Aber Neid zwischen Künstlern ist das Normalste auf der Welt, und es fehlt jeder Anhaltspunkt. Außerdem war sein Stil einmalig, und das Original ist nun einmal unersetzlich. Wenn man Indigo-Jay glauben darf, dann hat er ihn so ziemlich als Einziger gesehen, und das auch nur maskiert.«

      »Er war einfach zu perfekt, dieser Bernhard Jelinski«, murmelte Fischbach.

      »In einem Fall hat uns die Aussage von Indigo-Jay jedenfalls weitergebracht«, sagte sie. »Du meinst, dass er mit seinem eigenen Messer erstochen wurde?« Kai hatte anscheinend aufgepasst.

      »So weit können wir noch nicht gehen, Kai. Sagen wir besser: Offenbar war er im Besitz eines Messers. Soviel wir wissen, ist am Tatort jedoch kein Messer gefunden worden. Es kann sein eigenes gewesen sein oder auch nicht. Dass es das nicht war, dafür spricht, dass der Täter es ihm hätte entwenden müssen. Aber es existieren keinerlei Spuren eines Kampfes. Andererseits hätte dann sein eigenes Messer gefunden werden müssen …«

      »Er könnte es ausgerechnet in dieser Nacht zu Hause vergessen haben.«

      »So perfekt, wie er war?«

      »Oder er hatte es unvorsichtig, für den Mörder leicht erreichbar, abgelegt.«

      »Das könnte heißen, dass er keine Angst vor ihm hatte, ihn vielleicht kannte …« Hella zog ihr Handy aus der Jackentasche und rief die Nummer der KTU auf. Vom Kollegen am anderen Ende ließ sie sich dann aus dem Bericht vom Vortag zitieren.

      »Sie haben definitiv kein Messer gefunden, das der Beschreibung des Tatwerkzeugs entspricht, weder am Tatort und in der näheren Umgebung noch in Jelinskis Wohnung, auch nicht im Gartenhaus und in seinen Räumen im Museum.«

      »Das heißt, dass die KTU das Messer entweder übersehen oder der Täter es mitgenommen hat«, ergänzte Fischbach.

      Außerdem war es selbst für die beste Polizei einfach unmöglich, alle Einwohner der Stadt gleichzeitig zu filzen und die Oker bis zum Harz auszupumpen. »Soweit für heute Morgen«, sagte Hella. »Ich denke allerdings, wir sollten uns mit dem, was Indigo-Jay gesagt hat, nicht zufriedengeben. Was hältst du davon, in der Szene weiterzugraben?«

      Der wenig begeisterte Ausdruck auf Kais Gesicht verriet, dass er sofort verstanden hatte, was sie meinte. Ihm drohte ein Vormittag mit Telefonaten und Recherche am Computer. Auf Hella wartete eine Zeugenbefragung, die sie ohne männliche Begleitung für Erfolg versprechender hielt. Sie setzte Kai am Kommissariat ab und fuhr weiter in Richtung Prinzenpark.

      Trotz geklärter Identität blieb Bernhard Jelinski ein Mysterium. Wenn sie seinen Mörder finden wollte, musste sie herausfinden, was den Menschen ausgemacht hatte, seine Stärken, seine Schwächen. Den Künstler konnte Hella nicht beurteilen, diesbezüglich würde sie seine Mitarbeiter befragen und auch darüber, was sie von ihm als Museumsdirektor hielten. Die Person jedoch, die ihm privat vermutlich am Nächsten gestanden hatte, war seine Ehefrau Désirée.

      Halb elf, die Sonne stach vom Himmel, als Hella ihren Wagen vor dem alten Prachtbau in der Herzogin-Elisabeth-Straße parkte. Die schwere Haustür ließ sich nach dem Summton ganz leicht öffnen. Zur Wohnung im zweiten Stock versperrte ihr allerdings die Haushälterin den Weg. »Die Frau Professor ist für niemanden zu sprechen, sie muss sich auf ihren Sommerkurs vorbereiten.«

      »Lass dich von nichts und niemandem aufhalten, wenn es darum geht, einen Mord aufzuklären. Aber du musst nicht gleich mit der Tür ins Haus fallen, sonst machst du dir unnötig Feinde.« Die Stimme in ihrem Ohr klang wie die von ihrem Dad. In solchen Augenblicken vermisste sie ihren Vater sehr. »Es dauert nur einen Moment. Ich brauche wichtige Informationen von Frau Dr. Jelinski.«

      »Ich sagte Ihnen doch, dass die Frau Professor …«

      Wie wohl ihr Vater in dieser Situation reagiert hätte? Es musste einen Mittelweg geben. »Ich kann sehr lästig werden und viel Ärger machen«, erwiderte sie und setzte ihr gütigstes Lächeln auf. – Siehe da, wie durch ein Wunder brach das Eis. Er hatte ja so recht: Es kam immer auf den richtigen Ton an.

      Durch das Blätterdach der alten Linde hinter dem Haus rieselte ein angenehm kühler Luftzug. Die Professorin hatte es sich in einem Liegestuhl im Schatten bequem gemacht und las. Weitere Bücher und ihr aufgeklapptes Laptop lagen auf dem schmiedeeisernen Gartentisch, um den ein paar Klappstühle standen.

      Als sie Hella erkannte, unterbrach Désirée Jelinski die Lektüre. Sie war sichtlich nicht angetan von ihrem Erscheinen, rang sich aber ein Lächeln ab. »Eine deutsche Kommissarin findet immer einen Weg«, folgte die unüberhörbar ironisch gemeinte Begrüßung. Sie streckte Hella einen langen, sehnigen Arm mit schmaler weißer Hand entgegen und bot ihr Platz an. Auf einem der Stühle lag die aufgeschlagene Braunschweiger Zeitung. Wie nicht anders zu erwarten, füllte die Story um Straßenherz die ganze erste Seite.

      »Sie können sich wahrscheinlich vorstellen, dass ich mich hier nicht nur deshalb aufhalte, weil es im Schatten so angenehm kühl ist …«

      »Natürlich.«

      »Seit sieben Uhr klingelt fast ununterbrochen das Telefon. Jeder will etwas über Bernhard wissen, Interviews soll ich geben und so weiter … Deshalb habe ich Irma gesagt, dass ich für niemanden zu sprechen bin.« Sie wischte die krebsrote Haarsträhne aus ihrem zerknittert wirkenden Gesicht, vermutlich hatte sie kaum geschlafen.

      »Ich bewundere Sie, dass Sie bereits wieder arbeiten, nach dem Schock von gestern.« Ein Versuch, Zugang zu dieser stolzen Frau zu finden, ohne ihren Widerspruchsgeist zu reizen oder ihr zu nahe zu treten.

      »Ach, wissen Sie: Die Arbeit bleibt, auch wenn er mich verlassen hat.« In dem Tonfall klang der Satz allerdings weniger traurig als bitter. Als hätte sich ihr Mann bereits lange zuvor von ihr getrennt.

      »Sie werden verstehen, dass ich versuche, mir ein Bild von Ihrem gemeinsamen Leben zu machen. Nur auf diese Weise finde ich Anhaltspunkte, die mir helfen, das Tötungsdelikt aufzuklären. Das hat nichts mit Verdacht oder Anschuldigung zu tun. Das ist meine Arbeit als Ermittlerin«, sagte Hella.

      Die Witwe sah sie verblüfft an, offenbar hatte sie nicht erwartet, dass sich die Polizei die Zeit nehmen würde, ihre Arbeit zu erklären, und es schien ihr zu imponieren. »Was möchten Sie denn wissen?«, gab sie grünes Licht.

      »Sie werden zugeben, dass es verwundert, wenn ausgerechnet Sie als die Person, die Ihrem Mann am Nächsten stand, nichts von seinem Doppelleben wusste. Er musste doch viele Stunden nachts unterwegs gewesen sein. Roch er nicht nach Farbe oder Lack nach diesen Touren?«

      »Nein, ich habe nie etwas bemerkt. Vielleicht weil ich keinen Grund hatte, etwas Derartiges zu vermuten. Ich wollte auch nicht …« Sie stockte.

      »Sie meinen, es hat Sie nicht interessiert, was Ihr Mann mit seiner Freizeit anfing?«

      »Vielleicht …«, erwiderte Désirée Jelinski kühl.

      »Hatten Sie ein gemeinsames Schlafzimmer?«

      Den Unmut über die indiskrete Frage hatte die Witwe schnell beiseitegewischt, aber sie wirkte zunehmend nervös. Offenbar fühlte sie sich eingekreist und ihr wurde mehr und mehr bewusst, dass jede Antwort genau abgewogen wurde.

      »Nein, aber das heißt noch nicht … Viele Ehepaare schlafen aus unterschiedlichen Gründen getrennt.«

      »Es bedeutet nur, dass Sie kaum wissen konnten, ob Ihr Mann nachts in seinem Bett schlief oder nicht.« Das