Wolf-Dieter Storl

Heilkräuter und Zauberpflanzen zwischen Haustür und Gartentor - eBook


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sie artgerechter wachsen (STORL 1992:322).

      Ich vermute, dass die Brennnessel noch viele andere nützliche Eigenschaften besitzt, die der Landwirt noch gar nicht kennt. Botaniker nennen sie eine anthropochore Pflanze, eine Pflanze, die »mit dem Menschen tanzt« (griech. anthropos = Mensch, choreia = Tanz). Sie ist eine Pflanze, die dem Menschen überallhin folgt, als wolle sie von ihm adoptiert, gehegt, gepflegt, geliebt werden. Sehr viele unserer Garten- und Feldfrüchte waren einst ebenfalls anthropochore Pflanzen. Sie waren Unkräuter, die sich in den Gärten und Feldern breit machten, bis sie sich zu anerkannten, echten Kulturpflanzen »mauserten«. Roggen und Hafer waren einst Unkräuter in den Weizenfeldern der ersten sesshaften Bauern im Nahen Osten. Senf, Rauke, Bohnen, Linsen, Erbsen, Hanf, Mohn, Kohl, Mangold, Zuckerrüben, Chilipfeffer und Tomaten waren einst ebenfalls Unkräuter, die sich der Pflege der Menschen anvertrauten. Im letzten Jahrhundert wurde der Feldsalat (Nüssli-, Ackersalat, Valerianella), der Kubaspinat (Claytonia perfoliata) und das Burzelkraut oder Portulak (Portulaca oleracea) mit in den Gemüseanbau einbezogen. Inzwischen haben sich französische Gärtner des Löwenzahns und des Sauerampfers angenommen; man kann sich Samenpäckchen kaufen und sie ins Gartenbeet aussäen. Andere Kinder menschenfreundlicher Pflanzendevas stehen Schlange vor dem Gartentor, um in die Liga der Kulturpflanzen aufgenommen zu werden. Da besteht auch Hoffnung für die Brennnessel. Sie ist in unserem gestressten, umweltverseuchten Zeitalter von besonderer Bedeutung. Ihre immunstärkende Wirkung wird erst jetzt entdeckt. Zumindest in meinem Garten gilt sie als verehrter Gast!

      DES DONNERGOTTES PFLANZE

      Die heidnischen Stämme des Nordens, denen der römische Mars noch unbekannt war, betrachteten die Nessel als Pflanze des Hammergottes, den die Südgermanen Donar, die Skandinavier Thor und die Angelsachsen Thunar nannten. Blitz, Donnerschläge und fruchtbarkeitbringende Regengüsse begleiten seinen von Böcken gezogenen Wagen, wenn er über den Himmel jagt, um jene Mächte zu vertreiben, die dem Bauern den Acker verderben wollen. Mit dem Megalithhammer, der wie ein Bumerang in seine Hand zurückschnellt, zerschmettert er die harten Schädel der Frost- und Steinriesen.

      Wie der vedische Indra und andere verwandte indoeuropäische Gewittergötter ist Donar ein mächtiger Zecher. Keiner kann so viel Met oder Bier trinken wie er. Die Brennnessel, vielerorts noch immer Donnernessel genannt, passt in der Tat zu diesem trinkfesten Helden. Sensitive und Wünschelrutengänger behaupten, dass die Pflanze gern dort wächst, wo sich Erdstrahlen oder Wasseradern kreuzen. Das sind genau die Stellen, an denen der Blitz bevorzugt einschlägt. Zugleich aber, nach dem archaischen Prinzip, dass Gleiches auf Gleiches einwirkt, glaubte man, dass die Brennnessel auch vor Blitzschlag schützt. So wurde oft am Gründonnerstag – Donnerstag ist der Tag Donars – ein Strauß Nesseln gepflückt und unter dem Dach aufgehängt, um den Blitz abzuwehren. In Tirol wirft die Bäuerin noch heute Nesseln ins Herdfeuer, wenn draußen ein Gewitter tobt.

      Bekanntlich kann das Bier bei Gewitter »umschlagen«. Auch da hilft das Kraut des himmlischen Vieltrinkers. War ein Gewitter im Anzug, pflegten die Brauer einen Brennnesselstrauß auf den Bottichrand zu legen, damit das Bier nicht »sauer« wird, nicht gärt. Früher, bevor es ein Reinheitsgebot gab, braute man das dem Donnergott geweihte Bier mit allen möglichen Kräuterbeimischungen. Auch ein Nesselbier gab es. In England, wo viele altgermanische Bräuche erhalten geblieben sind, braut man sich noch immer ein erfrischendes Nettle beer. Es soll besonders den Älteren wohl bekommen, die an Gicht oder Rheuma leiden.

      Die Brennnessel war einst Bestandteil vieler harntreibender Arzneigetränke. Auch in dieser Hinsicht erweist sie sich ihres Schutzherrn durchaus als würdig, denn Donar konnte nicht nur Unmengen trinken, er konnte auch Unmengen Harn lassen. Die Nordeuropäer dachten sich Donnergott, Harn und Brennnessel als irgendwie zusammenhängend, sie verbanden sie in Sage und Brauchtum zu einem Symbolkomplex. In Skandinavien war es Brauch, sich zur Sommersonnenwende gegenseitig mit in Urin getauchten Brennnesselzweigen zu schlagen. Kein böser »Wurm« – ob Hasswurm, Neidwurm oder Gebeinwurm – kann dem Treiben standhalten. Sie fliehen alle, wie auch die giftspeiende Midgardschlange vor den Blitzschlägen Donars flieht. Fruchtbarkeit, Gesundheit und Lebensfreude können dann Einzug halten.

      Die Südslaven pflegten ihrerseits am Georgstag – der Drachentöter Georg hat vielerorts den Kult des Gewittergottes ersetzt – auf Brennnesseln zu urinieren, um das ganze Jahr über gesund zu bleiben. Auch in anderen Überlieferungen wird die Brennnessel mit dem Harn in Verbindung gebracht. So goss man etwa den Harn eines Kranken auf eine Nesselstaude; welkte sie, würde der Patient sterben, blieb sie grün, dann würde er genesen. Auf gleiche Weise glaubte man feststellen zu können, ob eine junge Frau noch Jungfrau war oder nicht: Blieb die Pflanze nach dem Begießen mit dem Urin grün, konnte man sicher sein, dass sie unberührt war.

      Rezepte

      Nettle beer

      1 Eimer junge Brennnesselblätter

      3–4 Handvoll Löwenzahn

      3 Handvoll Kletten-Labkraut

      1 Ingwerzehe

      2 Tassen brauner Zucker

      Die Kräuter langsam 45 Minuten lang in 8 Liter Wasser kochen. Lauwarm abkühlen lassen. Den Zucker und etwa 30 g (1 Unze) Brauereihefe hineinrühren. Sieben Stunden warm halten, dann den Schaum abschöpfen. Einen Teelöffel Weinstein (Kaliumhydrogentartrat) hineinrühren. In Flaschen abfüllen und fest verschließen.

      Wie Indra, Zeus und andere alte Gewittergötter galt Donar als besonders potent und zeugungskräftig. Sein Hammer war nicht nur Waffe, sondern auch ein mächtiger Phallos, mit dem er leidenschaftlich im Gewittersturm die Erde befruchtete. In Germanien war es daher Brauch, der Braut während der Hochzeitszeremonie einen Hammer in den Schoß zu legen, um sie mit Fruchtbarkeit zu segnen. Donars Eigenschaft als Anreger der Fruchtbarkeit und Zeugungskraft übertrug sich, wie wir schon gesehen haben, auch auf seine Pflanze, die Brennnessel. Vor allem den Samen sagte man nach, dass sie die Sexualität fördern, was sie zu einem Tabu für die Mönche und Nonnen des Mittelalters machte.

      In archaischen Kulturen gelten Haare als Zeichen überbordender Vitalität. Die Heiden stellten sich dementsprechend den Donnerer als stark behaart vor. Er hatte eine Löwenmähne und einen wallenden Rauschbart. Auch diesen Aspekt erkannte man in der »haarigen« Brennnessel wieder. Seit vorchristlichen Zeiten behandelt man das Haar mit Brennnesselauszügen und -tees. Noch heute sind Brennnesselshampoos, Brennnesselhaarwasser und -haarspülungen im Handel erhältlich.

      Donar, der Gott mit dem Blitzkeil, galt bei den Skandinaviern im hohen Norden ebenso wie bei den Alemannen in den Alpentälern als der Hüter der Schätze der Erde. Er hatte die Macht, unterirdisches Gold und Edelsteine vor dem frevelhaften Zugriff gieriger Riesen zu bewahren. Wie später der eisengewappnete Ritter Georg wird auch er mit dem Gift und Feuer speienden Drachen und Lindwürmern fertig, die tief in der Erde hausen. Noch lange steckten sich Schatzsucher oder Goldschürfer eine Brennnesselrute an den Hut oder nahmen eine andere dem Donar geweihte Pflanze mit, wie beispielsweise das Christophskraut (Actaea spicata), um beim Ausgraben nicht vom Blitz getroffen oder vom Erddrachen verschlungen zu werden.

      Die Donnernessel war den Germanen dermaßen heilig, dass sie der Lachner, der Heilkräuterkundige, beim Pflücken oder beim Ausgraben ehrfürchtig mit Zauberworten ansprach. Die meisten dieser Sprüche sind in Vergessenheit geraten. Bei den Angelsachsen wurde dieses Bruchstück einer Beschwörung überliefert (Angelsächsischer Kräutersegen, 11. Jh.):

      »Dies ist die Pflanze, die Wergulu heißt

      Diese entsandte der Seehund über den Rücken der See

      Als Hilfe gegen die Bosheit des anderen Giftes.«

      Was aber hatte die Brennnessel mit dem Seehund zu tun? Der Gewittergott scheint ein besonderes Verhältnis zu diesen Meeressäugern gehabt zu haben. Man glaubte, dass Seehundspeck wie die Nessel Haarausfall, Gicht, Gebärmuttererkrankungen und verschiedene Fieber heile. Ein Gürtel aus Seehundhaut galt als gut für den Unterleib, für die Harnorgane und die Hüften. Und wer ein Robbenfell trägt, »dem sträuben sich die Haare bei großen Ungewittern«. (Auch die Römer haben offensichtlich