Jan Heilmann

Lesen in Antike und frühem Christentum


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von Termini wie „gottesdienstliche Lektüre“, „liturgische Lesung“, „Wortgottesdienst“ etc. (G. Theißen spricht diesbezüglich sogar vom „kultischen Gebrauch“)2 in vielen Publikationen durch eine deutliche definitorische Unschärfe gekennzeichnet ist.3 Was SchriftlesungSchrift-lesung bedeutet und in welche sozialen und kulturgeschichtlichen Kontexte sie einzubetten ist, wird im Grunde als selbstverständlich gegeben vorausgesetzt. Vielfach bekommt man den Eindruck, spätere liturgische LesepraxisLese-praxis werde in die Zeit des frühen Christentums zurückprojiziert. Dies zeigt sich z.B. schon an der fragestellungsleitenden Unterscheidung zwischen einem WortgottesdienstGottesdienstWort- auf der einen Seite und einem „eucharistischen“ Gottesdienst auf der anderen Seite,4 die angesichts neuerer Forschungen zum MahlGemeinschaftsmahl im frühen Christentum und zur Entstehung des Gottesdienstes im frühen Christentum hochproblematisch geworden ist.5 Eine grundsätzliche Schwierigkeit besteht z.B. schon in der Verwendung des deutschen Gottesdienst-Begriffs, der für viele quellensprachliche Lexeme „zu unspezifisch und zu weit ist“ bzw. deren Bedeutungsfülle nicht abdeckt6 und daher als metasprachlicher Terminus klar definiert werden müsste. Außerdem zeichnen sich viele Arbeiten durch ein genealogisches Ableitungsmodell der frühchristlichen Lesepraxis aus dem „jüdischenJudentum SynagogengottesdienstSynagoge-ngottesdienst“ aus.7 Dies wird unter 7.4 weiter zu thematisieren sein. Wenn im Rahmen dieser Studie Begriffe wie „Gottesdienst“, „Liturgie“, „RitualRitual/ritualisiert“ (resp. die zugehörigen Adjektive) dennoch verwendet werden, dann beziehen sie sich auf die unspezifischen und weitgehend definitorisch unterbestimmten Kontextualisierungsmodelle, die sich in der Forschungsliteratur finden.

      Die definitorische Unschärfe der Begriffe „gottesdienstlicheGottesdienst Lektüre“, „liturgische Lesung“, „Wortgottesdienst“ etc. ist forschungsgeschichtlich besonders deswegen relevant, da das vorausgesetzte Konzept eines frühen christlichen „Gottesdienstes“ und der darin implizierten LesepraxisLese-praxis vielfach als Kontext für die Erstrezeption neutestamentlicher Schriften vorausgesetzt wird. Dieses Kontextualisierungsmodell wird z.B. für die Erstrezeption der Paulusbriefe8 und der ApcApc9 verwendet und ist insbesondere für die Markusforschung von Relevanz. In Bezug auf Markus findet es sich schon Ende des 18. Jh. bei J. G. Herder.10 Der Rezeptionskontext des MkEvMk wird maßgeblich aus dem sprachlichen Stil abgeleitet, wie exemplarisch bei M. Hengel deutlich wird, der aus dem sprachlichen Stil sogar Rückschlüsse auf den Produktionskontext zieht:

      „Wahrscheinlich ist das EvangeliumEvangelium aus dem lebendigen mündlichen Vortrag herausgewachsen und für die lectiolectio sollemnis im GottesdienstGottesdienst abgefaßt worden. Die kurzen, oft rhythmisch geformten Kola weisen auf die mündliche RezitationRezitation in der GemeindeversammlungGemeinde-versammlung hin. Das Evangelium ist für das OhrOhr des HörersHörer geschriebenSchriftGeschriebenes, und darum alles andere als ein künstliches literarisches Schreibtischprodukt, das aus obskuren schriftlichen Quellen, aus zahlreichen Zetteln und Flugblättern zusammengestückelt wurde.“11

      Insbesondere die Verwendung der Kategorie lectiolectio sollemnis zeigt hier deutlich, dass das spätere Konzept einer festlichen liturgischen Verlesung biblischer Texte im GottesdienstGottesdienst anachronistisch in den Befund hineinprojiziert wird. Es handelt sich eindeutig um einen späteren liturgiegeschichtlichen Terminus. Aus den frühen Quellen lässt sich dessen Gebrauch weder in quellensprachlicher noch in metasprachlicher Hinsicht rechtfertigen. So ist das Kontextualisierungsmodell „Gottesdienst“/„liturgische Lesung“ für die Frühzeit insgesamt mehrfach zu Recht kritisiert worden.12 Anschaulich formuliert C. Buchanan:

      „To inspect the liturgical evidence of the first and second centuries is like flying from Cairo to the Cape in order to get a picture of Africa, only to find that there is thick cloud cover all the way, with but half a dozen gaps in it.“13

      Andererseits spielt die Kategorie „Verlesung im GottesdienstGottesdienst“ eine entscheidende Rolle bei vielen Rekonstruktionen der Entstehung des neutestamentlichen KanonsKanon. Am wirkmächtigsten war in dieser Hinsicht wohl die monumentale Arbeit T. Zahns, der zwar nicht als erster, aber doch prominent – und in Frontstellung gegen die dogmengeschichtlichen Zugänge Baurs und Semlers14 – die Interdependenz zwischen der Verlesung im Gottesdienst auf der einen Seite und der Sammlung von Schriften sowie der prozesshaft konzeptualisierten Entstehung des Kanons auf der anderen Seite postuliert. Im neutestamentlichen Kanon sieht er also von Beginn an eine Sammlung „kirchlicher Vorlesebücher“.15 Diese These ist zwar schon früh kritisiert worden – insbesondere die Spannung zwischen dem Postulat eines ideell bereits vorhandenen Kanons auf der einen Seite und dem postulierten Prozesscharakter bzw. der nicht physischen Einheit dieses Kanons auf der anderen Seite16 – aber hat doch die weitere Forschung zum neutestamentlichen Kanon maßgeblich geprägt.17 Dies ist insofern problematisch, als das Konzept der Verlesung im Gottesdienst in der Diskussion um die Entstehung des KanonsKanon vielfach definitorisch unterbestimmt bleibt,18 mit der Gefahr einer anachronistischen Rückprojektion moderner Vorstellungen vom Gottesdienst verbunden ist19 und als gleichsam feste Konstante ohne weitere Begründung vorausgesetzt wird.

      Insgesamt ist der Großteil der Forschung des 20. Jh. davon geprägt, dass Lesen im frühen ChristentumChristentum weitgehend monosituativ im „GottesdienstGottesdienst“/der „GemeindeversammlungGemeinde-versammlung“ verortet wird – zum Teil mit der Begründung der vermeintlich hohen Kosten von HandschriftenHandschrift/Manuskript (Hss.Handschrift/Manuskript), der unterstellten leseunfreundlichen Gestaltung derselben und der angenommenen geringen LesefähigkeitLese-fähigkeit (s. auch Literalität).20 Zum Teil wird aber auch die Möglichkeit anderer Rezeptionsweisen, insb. der Kontext der Katechese angedeutet;21 systematische Untersuchungen fehlen jedoch.

      Eine Ausnahme einer solchen monosituativen Verortung des Lesens im frühen ChristentumChristentum bildet allerdings Harnacks 1912 erschienene Studie „Über den privatenÖffentlichkeitnicht-öffentlich/privat Gebrauch der heiligen SchriftenHeilige Schrift(en) in der Alten Kirche“KircheAlte, die maßgeblich auf einer noch älteren Arbeit von C. W. F. Walch aufbaut.22 Harnack wendet sich in dieser Studie gegen die maßgeblich von Lessing vertretene These, dass in der Alten Kirche das Lesen der Bibel Laien vorenthalten worden wäre. Dazu untersucht Harnack die Zeugnisse bis TheodoretTheodoret, die Rückschlüsse auf „privaten Gebrauch“ biblischer Texte zulassen. Harnack kommt zu dem Ergebnis, dass die biblischen Texte (zuerst die alttestamentlichenAT/HB/LXX und dann auch die neutestamentlichen) in der Alten KircheKircheAlte prinzipiell „jedermann zugänglich und in den Händen vieler Christen“23 waren. Für die Zeit der paulinischen Briefe, vermutet er jedoch, „wird – einfach infolge eines Mangels an Exemplaren – anfangs und eine geraume Zeit hindurch der private Gebrauch seltener gewesen sein.“24 Schon für Lukas nimmt er aber an, dass dieser auch außerhalb der „gottesdienstlichenGottesdienst Verlesung“ biblische Texte privat studiert habe.25 Aus der Literatur des 2. Jh. schlussfolgert er sodann, „daß das Alte Testament, die EvangelienEvangelium und die Paulusbriefe eine sehr große Publicität besessen haben müssen und von zahlreichen Christen studiert worden sind.“26 Schon wegen der zusammengetragenen Quellen bildet die Studie einen wichtigen Ausgangspunkt für die Frage nach der LesepraxisLese-praxis im frühen Christentum.27 Allerdings stellt sich die Frage, ob die Kategorie „privater Gebrauch“, die eine dichotome Unterscheidung von einem offiziellen (öffentlichenÖffentlichkeitöffentlich) kirchlichen Gebrauch (also eine feste Institution der „gottesdienstlichen Vorlesung“28) voraussetzt, in heuristischer Hinsicht nicht zu allgemein ist, um die Lesepraxis im frühen Christentum angemessen und differenziert genug beschreiben zu können.

      Zwei Arbeiten aus den 1990er Jahren, die sich dezidiert mit dem Lesen im frühen ChristentumChristentum bzw. im NT beschäftigen, sind hier etwas ausführlicher zu besprechen. Bis heute einflussreich, besonders in der anglophonen ExegeseExegese, ist H. Y. Gambles 1995 erschienene Monographie „Books and Readers in the Early Church: A History of Early Christian Texts“. Wie schon der Titel sagt, handelt es sich bei Gambles Buch weniger um eine Studie zum Lesen selbst. Er formuliert jedoch gleich zu Beginn dem oben skizzierten Grundnarrativ entsprechend die These:

      „Remember, however, that all ancient reading was reading aloud and that much of it occurred in public, quasi-public, and domestic settings where those listening might include the semiliterate and illiterateLiteralität/Illiteralität