Jan Heilmann

Lesen in Antike und frühem Christentum


Скачать книгу

altertumswissenschaftlichen Forschung v. a. im 20. Jh. maßgeblich von der Frage nach dem „lautenLautstärkelaut“ und „leisenLautstärkeleise“ Lesen dominiert worden. Da hier wichtige methodische Implikationen und hermeneutische Grundfragen des Zugangs zum Thema deutlich werden, sind an dieser Stelle einige Bemerkungen zu dieser Debatte notwendig. Den locus classicus, von dessen Interpretation die Diskussion maßgeblich geprägt ist, bildet ein Bericht von Augustinus über die LesepraxisLese-praxis von AmbrosiusAmbrosius von Mailand in seinen Confessiones. Ein Auszug daraus sei zur besseren Verständlichkeit der Debatte vorweg abgedruckt:

      „Ich [scil. Augustinus] seufzte noch nicht im Gebet, dass du mir zur Hilfe kommst, sondern mein Geist strengte sich an zu forschen und sehnte sich nach Disputation. […] Auch wußte er [scil. AmbrosiusAmbrosius von Mailand] nichts von meinen Unruhen noch von dem Abgrunde meiner Gefahr, weil ich ihn nicht nach Wunsch fragen konnte. Denn von seinem OhrOhr und Munde war ich abgesperrt durch ganze Haufen geschäftiger Leute […]. Und war er einmal von diesen Leuten nicht umgeben, was immer nur sehr kurze Zeit der Fall war, so stärkte er seinen Leib […] oder erquickte durch Lektüre [lectiolectio] seine Seele. Wenn er aber las, ziehen seine AugenAugen über die Seiten hin, und das Herz drang in ihr Verständnis, StimmeStimme und Zunge jedoch ruhten. (sed cum legebatlego, oculi ducebantur per paginas et cor intellectum rimabatur, uox autem et lingua quiescebant.) Oft, wenn ich zugegen war – denn niemandem war verboten, einzutreten, und es war nicht Brauch, ihm die Besuchenden zu melden –, hab ich ihn so gesehen, und nie anders, als schweigend lesend (sic eum legentem uidimus tacite). Dann saß ich lange schweigend bei ihm – denn wer hätte es gewagt, dem so in sich Versunkenen zur Last zu werden? – und ging wieder weg und dachte mir, in jener kurzen Spanne Zeit, die er […] für sich und zur Erholung seiner Seele gewinnen könne, wolle er nicht zu anderen Dingen hingezogen werden. Und leiseLautstärkeleise las er, wohl deshalb, daß nicht ein wißbegieriger und aufmerksamer HörerHörer ihn zwingen könne, eine dunkle Stelle, die er eben las, ihm aufzuklären und ihm in irgendwelcher schwierigen Frage Rede zu stehen. Darüber wäre so viel Zeit verloren gegangen, dass er das BuchBuch nicht so weit hätte auseinanderrollen [also lesen] können (voluminum evolveretevolvo), wie er gewollt hätte. Auch wenn er durch das schweigende Lesen nur seine Stimme, die leicht heiser wurde, hätte schonen wollen, so wäre dies ein billiger Grund gewesen. In welcher Absicht er es auch getan, sicher tat er immer gut.“ (Aug.Augustinus von Hippo Conf. 6,3; Üb. angelehnt an HEFELE).

      Die bis heute vorherrschende, maßgeblich auf der Grundlage dieser Quelle gebildeten communis opinio lässt sich mit dem folgenden Satz aus dem Aufsatz von J. Balogh, der die Grundlage für die Debatte legte, zusammenfassen: „Der Mensch des Altertums las und schrieb in der Regel lautLautstärkelaut; das Gegenteil war zwar nicht unerhört, doch immer eine Ausnahme.“1 „Leises“ Lesen sei sogar als etwas Ungewöhnliches wahrgenommen worden.2 Diese These ist in den altertumswissenschaftlichen Fächern in vielfältigen Varianten wiederholt und zur Bildung verschiedenster Hypothesen (insb. im Hinblick auf die Orality-Literacy-DebatteMündlichkeit) herangezogen worden, wie im Rahmen dieser Arbeit noch an unterschiedlicher Stelle deutlich wird.3 Und auch in der neutestamentlichen Wissenschaft ist diese Sicht weit verbreitet, wie oben gezeigt wurde.

      Vor dogmatischen Vorfestlegungen, es habe in der Antike kein „leises“ Lesen gegeben, warnt jedoch der geistesgeschichtliche Kontext der Forschungstradition, aus der diese These stammt: Baloghs Forschungsfrage, die ihn zu oben zitiertem Urteil führt, ist nämlich von einer kulturkritischen und z. T. modernitätskritischen TraditionTradition des 18. und 19. Jh. beeinflusst, die normativ am Vorbild der Antike ausgerichtet ist.4

      Beispielhaft formuliert C. M. Wieland in seiner Übersetzung zu Lukian.Lukian von Samosata adv. ind. 2:5 „Diese Stelle beweiset […], daß die Alten (wenigstens die Griechen) alle BücherBuch, die einen Werth hatten, lautLautstärkelaut zu lesen pflegten, und daß es bey ihnen Regel war, ein gutes Buch müsse laut gelesen werden. Diese Regel ist so sehr in der NaturNatur der Sache gegründet, und daher so indispensabel, daß sich mit diesem Grunde behaupten lässt, alle Dichter […] von Talent und Geschmack müssen laut gelesen werden, wenn nicht die Hälfte ihrer Schönheit für den LeserLeser verlohren gehen sollen.“6

      Die Fortschreibung dieser kulturkritischen, an die Kulturkritik der Antike anknüpfenden Sicht im Zeitalter des industriellen Buchdruckes wird auch in einem ebenfalls in den 20er Jahren des 20. Jh. erschienenen, englischsprachigen Artikel deutlich:

      „… from Homer – a world without books and written records – down to Plato, where books are stillLautstärkestill new, though plentiful, is but a step, and so to our own day which groans beneath their burden. Almost within the memory of men now living the printed page has brought about the decline, if not the death, of oratory, whether of the parliament, the bar, or the pulpit; the newspaper and the review, anticipating every subject of comment, have killed conversation and debate; the learned archive or scientific journal renders the gatherings of scholars insignificant for purposes other than convivial; and books have in large degree displaced the living voiceStimmelebendige (viva vox) of the teacher. Books have created, as Plato prophesied, an art of forgetfulness, in that no one longer gives his mind to remembrance of that which can be consulted at leisure. The art of writing was to be sure in Plato’s time nothing new; but the Greek book, the accessible and convenient repository of other men’s thought, was scarcely yet a century old.“7

      Stutzig macht zudem, schaut man Disziplinen übergreifend auf die Forschungsliteratur zur Geschichte des Lesens, die in aller Regel als Fortschrittsgeschichte geschriebenSchriftGeschriebenes wird, dass das „leiseLautstärkeleise“ Lesen in der europäischen Geistes- und Kulturgeschichte mindestens fünfmal „erfunden“ wird.

      (1) So vertritt der klassische Philologe J. Svenbro8 die These, das „leiseLautstärkeleise“ Lesen sei im 5. Jh. v. Chr. entstanden. Die Entwicklung vom „lautenLautstärkelaut“ zum „stillenLautstärkestill“ Lesen kann Svenbro in diachroner Hinsicht an Veränderungen im Selbstverständnis von InschriftenInschriften zeigen. Während die früheren Inschriften, insbesondere aus der archaischen Zeit, darauf angewiesen waren, dass der LeserLeser „seine StimmeStimme der stummen Inschrift leiht“9, findet man seit dem 5. Jh. das Phänomen von sprechenden Objekten oder Gegenständen sowohl in Bezug auf Inschriften als auch in der Reflexion dieses Phänomens in den Quellen:10 Insbesondere die Korrelation dieses Wandlungsprozesses mit der Entwicklung in der Theorie der visuellenvisuell Wahrnehmung im 5. Jh. v. Chr., die bei EmpedoklesEmpedokles, LeukippLeukipp und DemokritDemokrit deutlich wird, ist ein sehr starkes Argument. So wird hier die Vorstellung, dass das SehenSehen durch einen Strahl aus dem AugeAugen möglich wird, durch die atomistische Theorie ersetzt, in der die Möglichkeit des Sehens auf die Emission von kleinsten Teilchen durch den gesehenen Gegenstand zurückgeführt wird – in Bezug auf die Frage nach dem Lesen also „das Geschriebene seine Bedeutung zum Auge hin aussendet.“11 Zudem findet Svenbro im kulturellen Kontext des 5. Jh. die Vorstellung einer inneren Stimme, einer Stimme im Kopf;12 also eine Vorstellung die eine notwendige Voraussetzung für das „stille“ Lesen darstellt. Auf diese innere StimmeStimmeinnere (inner reading voice), die in der neueren LeseforschungLese-forschunginner reading voice genannt wird, wird später zurückzukommen sein.

      Svenbro zeigt damit, dass sowohl die InschriftenInschriften als auch die direkten Zeugnisse für das „leiseLautstärkeleise“ Lesen im 5. Jh. v. Chr., die schon B. Knox gegen die maßgeblich von J. Balogh geprägte communis opinio in Stellung gebracht hatte,13 „ein und dieselbe Interiorisierungsbewegung [belegen], die im Verlauf des 5. Jahrhunderts vollzogen wurde […] [–] die Interiorisierung der StimmeStimme des LesersLeser, der nunmehr in der Lage ist, ‚in seinem Kopf zu lesen‘.“14 Die Grundlage für die Entwicklung hin zum „stillenLautstärkestill“ Lesen sei in pragmatischerPragmatik Hinsicht die Notwendigkeit größere Textmengen zu bewältigen;15 stärker wiege aber noch eine qualitative Veränderung in der HaltungHaltung gegenüber GeschriebenenSchriftGeschriebenes, die maßgeblich durch die Erfahrungen im TheaterTheater induziert gewesen sei. Denn durch die Transformation des dramatischen