Jan Heilmann

Lesen in Antike und frühem Christentum


Скачать книгу

der Kontext und vor allem der alternativ genannte Vortragsgegenstand, nämlich ein Problem, das von jemandem der Anwesenden aufgeworfen wird, dass der Hauptfokus auf den eigenen Ausführungen des Vortragenden liegt. Es handelt sich nicht um eine Szene performativer Lektüre mit dem Ziel kollektiver Textrezeption, sondern um eine Lehrszene (διδασκαλία) – wenn der Gegenstand des Vortrages ein Problem aus den heiligen SchriftHeilige Schrift(en)en ist, um eine exegetischeExegese Lehrszene –, bei der das VorlesenRezeptionkollektiv-indirekt, wenn überhaupt, eine SupplementfunktionSupplementfunktion hatte. Die Reaktion des Publikums, das ausschließlich mit der Mimik auf den Vortragenden respondiert (PhiloPhilon von Alexandria cont. 77), am Ende aber die Stille aufgibt und Beifall spendet (Philo cont. 79), bezieht sich nicht auf einen Vorleseakt, sondern auf die Inhalte des Vortrags; insofern ist es methodisch nicht gestattet, diese Quelle in eine vermeintliche performative LesekulturLese-kultur der Antike einzuzeichnen.12

      7.2.4 Zwischenfazit

      Die TherapeutenTherapeuten haben also nicht bei ihrer Versammlung gelesen,1 sondern individuell-direktLektüreindividuell-direkt und in Abgeschiedenheit von den anderen. Dies ist insofern von besonderer Relevanz, als Philons Beschreibung der Therapeuten freilich stark idealisierte Züge aufweist, aber diese Idealisierung gerade eine „allegory for ideal congregations of Jews“2 darstellt, also einen Aussagewert über die besprochene Gruppe hinaus hat. Außerdem bleibt festzuhalten, dass die bei PhilonPhilon von Alexandria eindrücklich bezeugte Reflexion des Prozesses des SchriftspracherwerbsSchrift-spracherwerb sowie der kognitivenkognitiv Verarbeitung, v. a. im Hinblick auf die der Aufmerksamkeit die Aufnahmekapazitäten sowie der variierenden Geschwindigkeiten beim Lesen, die Verbreitung individuell-direkter Lektüre im JudentumJudentum des 1. Jh. v./n. Chr. voraussetzt. Wichtig ist außerdem das mnemotechnische Konzept, das nicht auf „MündlichkeitMündlichkeit“ oder das Wiederholen im Kopf setzt, sondern die Konsultation des LesemediumsLese-medium erfordert. In keinem Fall findet sich bei Philon eine Form liturgischen Lesens oder ein bestimmter LesezyklusLese-zyklus.

      7.3 Qumran

      In den Texten, die in den Höhlen am Toten Meer gefunden wurden, gibt es im Hinblick auf die Fragestellung dieser Studie einige wenige Stellen, an denen LesepraktikenLese-praxis reflektiert werden, die aber wegen ihres fragmentarischen Zustandes nur mit Schwierigkeiten auszuwerten sind. Hinzu kommt die Kontroverse um die Interpretation der archäologischen Befunde in Khirbet Qumran,1 die eine eindeutige Zuordnung der bezeugten Lesepraktiken zu einer spezifischen und eindeutig lokalisierbaren, gleichsam „monastischen“ Gruppe anfechtbar macht. Aus pragmatischenPragmatik Gründen wird diese Frage hier ausgeklammert und die Schriften werden als allgemeine Zeugnisse für die Lesepraxis von Gruppen im antiken JudentumJudentum gelesen,2 wobei im Rahmen der hier vorgelegten Fallstudien keine ausführliche Auseinandersetzung möglich ist. Vorab ist noch auf die interessante These von D. Stökl Ben Ezra hinzuweisen, der auf die Fund von Texten hinweist, die in einer Geheimschrift geschriebenSchriftGeschriebenes sind, bei denen aber TitelTitel oder Incipit z. T. in hebräischer Schrift geschrieben sind, vermutlich, damit sie von jedem zumindest identifiziert werden können. Er interpretiert die Geheimschrift als Zugangsbeschränkung innerhalb einer Gruppe und leitet daraus ab, dass in den hinter den Schriften stehenden Gruppen ein hoher Literalitätsgrad vermutet werden kann.3 In der Forschungsliteratur findet sich eine breite Diskussion um das Thema Lesen in Qumran, die insbesondere durch die Aussagen in 1QS 6,6–81QS 6,6–8 angeregt wurde.

      6 Und nicht soll an dem Ort, wo zehn Männer sind, einer fehlen, der in der ToraTora forscht (דורש בתורה), Tag und Nacht, 7a beständig, einer nach dem anderen. b Und die Vielen (הרבים) sollen gemeinsam wachen den dritten Teil aller Nächte des Jahres, um im BuchBuch (בספר) zu lesen (לקרוא) und nach Recht zu forschen (לדרוש) 8 und gemeinsam (ביחד) Lobsprüche zu sagen (Üb. LOHSE; mod. JH).

      Der erste Teil dieses Abschnitts besagt, so die Mehrheit der Forschung, „dass bei Gruppen von mindestens zehn Männern zu jeder Zeit tagsüber und nachts abwechselnd mindestens einer von ihnen die ToraTora studieren soll.“4 Die Formulierung impliziert, dass jeweils einer individuell-direktLektüreindividuell-direkt in der Tora zu Studienzwecken liest,5 wobei die anderen etwas anderes machen können/müssen. Dafür spricht außerdem, dass nur in einem Drittel der Nächte gemeinsam gewacht werden soll, wie in 7b1QS 6,7–8 bestimmt ist. Möglicherweise ist diese Forderung in Zusammenhang mit dem Folgenden als Umsetzung der idealisierten Forderung von Jos 1,8Jos 1,8 und Ps 1,2Ps 1,2 zu verstehen.6 Sehr wahrscheinlich hat man sich eine subvokalisierendeStimmeinsatzsubvokalisierend Form des Lesen vorzustellen, worauf in der Forschung mehrfach hingewiesen wurde;7 so findet sich zumindest an anderer Stelle in den Schriften vom Toten Meer Ableitungen von הגה (s. o. 7.1.2) als LeseterminusLese-terminus verwendet (vgl. z.B. 4Q417 1 1,16–184Q417 1 1,16–18; 4Q418 434Q418 43).8 Nichts deutet hingegen darauf hin, dass eine Situation gemeinschaftlichen Studiums vorauszusetzen wäre.

      Schwieriger zu verstehen sind die Bestimmungen im zweiten Teil des zitierten Abschnitts (1QS 6,7b–81QS 6,7–8). Es ist zwar richtig, dass hier den „Vielen“, also einem Kollektiv, „Studierpflichten“ auferlegt werden;9 nicht klar ist jedoch, ob das nächtliche Lesen im BuchBuch und das Forschen nach Recht,10 das durchaus eine Analogie zur griechisch-römischen Institution der lucubratiolucubratio bildet, hier tatsächlich kollektiv-indirektRezeptionkollektiv-indirekt geschieht11 oder man sich eine Gruppe individuell lesender Personen vorstellen muss (nächtliches StudiumStudium ist ferner auch in 4Q418 43 44Q418 43 belegt). So ist es auffällig, dass die RezitationRezitation von Segenssprüchen in Z. 81QS 6,7 f erneut durch ביחד („gemeinsam“) spezifiziert wird.12 Ginge man davon aus, dass auch Lesen und Forschen eine gemeinschaftlich durchgeführte Tätigkeit bezeichnete, dann wäre diese erneute Spezifikation redundant, da in Z. 7b schon das Wachsein in einem Drittel der Nächte des Jahres durch ביחד spezifiziert wird. Außerdem weist Stökl Ben Ezra zu Recht darauf hin, dass לקרוא offen lasse, „ob gelesen oder vorgelesen wurde“;13 auch sei offen „ob eine oder mehrere Kopien des gleichen Buches gleichzeitig benutzt wurden.“14 M. E. ist es noch nicht einmal eindeutig, dass zwingend das gleiche Buch, also derselbe LesestoffLese-stoff gemeint sein muss. Denn בספר muss nicht, wie häufig vorausgesetzt, basefer („das Buch“) vokalisiert und als definiter Singular aufgefasst werden, sondern kann auch indefinit vokalisiert werden: besefer („ein Buch“).15 Es wäre sogar zu erwägen, ob קרא בספר hier nicht gleichsam als lexikalisierte Wendung „in der beschriebenen BuchrolleRolle (scroll)/in dem Dokument ‚sagen‘/lesen“16 individuell-direkteLektüreindividuell-direkt Lektüre konzeptualisiert,17 wobei der semantische Gehalt stimmlicherStimme RealisierungStimmestimmliche Realisierung der Wurzel קרא, die im ATAT/HB/LXX eindeutig auch individuell-direkte Lektüre bezeichnen kann, verblasst ist (s. dazu die Ausführungen unter 7.1.1), wie es bei HauptleseverbenHauptleseverb einer Sprache häufig beobachtet werden kann (s. o. 3.1 u. 3.3). Dafür könnte sprechen, dass einerseits das VorlesenRezeptionkollektiv-indirekt vor anderen an anderer Stelle durch die Formulierung („in ihre OhrenOhr lesen“) vereindeutigt wird,18 dass an anderer Stelle, wo es mutmaßlich um das Vorlesen geht, ohne Präposition לקרוא ספר formuliert wird (vgl. z.B. 4Q421 84Q421 8)19 und dass andererseits ספר merkwürdig unterdeterminiert ist. Mit diesem Verständnis erübrigte sich auch die Kontroverse bezüglich der Frage, welches Buch hier gemeint wäre;20 wenn es sich nämlich um eine lexikalisierte Wendung handelt, bezieht sich ספר bloß allgemein auf das LesemediumLese-medium Buchrolle und nicht auf ein spezifisches Buch. In jedem Fall handelt es sich nicht um den Kontext eines Gebetsgottesdienst, sondern um „Studiensitzungen,Studium in denen auch Lobsprüche gesagt werden“,21 bzw. um abendliche und nächtliche Studiensitzungen, die mutmaßlich in einem Gemeinschaftsmahlkontext (vgl. 1QS 6,2ff1QS 6,2ff) stehen, d. h. in Analogie an den sympotischenSymposion Teil antiker Mahlkultur zu verstehen sind.22

      Ein Großteil weiterer Texte, die mutmaßlich Lesen thematisieren oder LesepraktikenLese-praxis reflektieren, ist zu fragmentarisch, als dass sie sinnvoll ausgewertet werden können.23 Zwei dieser