aus diesen Ländern; es gab aber auch große Migrantenströme innerhalb der Türkei. Das Land war gerade dabei, aus dem Kriegszustand herauszukommen und sich zu erneuern. Es war beileibe kein sicheres Land; es war wie im Wilden Westen: Es galt das Faustrecht, die Waffen und das Geld regierten.
Nachdem sie die Grenze passiert und neue Namen bekommen hatten, wurden meine Vorfahren in einen der berühmten Schwarzen Züge gesteckt. Was hat es mit dem sogenannten Schwarzen Zug, dem Kara Tren, auf sich? Viele Lieder handeln vom Schwarzen Zug.
Meine Augen sind auf dem Weg,
mein liebendes Herz ist verengt.
Komme entweder du selbst,
oder schicke mir wenigstens
eine Nachricht.
Ich hörte, angeblich hast du einen Brief
geschrieben und ihn vergessen.
Der Schwarze Zug verspätet sich,
kommt vielleicht nie wieder
Bleibt hängen auf den Bergen
und weiß nichts von meinen Schmerzen.
Dein Dampf verweht
und sieht nicht meine Situation.
Ein Verhängnis füllt mein Herz
und meine Tränen werden nicht weniger.
Der Schwarze Zug war immer mit dabei, wenn sich Leute auf die Reise machten, die aus den verschiedensten Gründen ihre Heimat verlassen mussten. Und er war komplett schwarz – von der Lokomotive bis zum letzten Wagen. Mit der Zeit wurde er ein Symbol der Trennung. Einer meiner Onkels wurde in so einem Zug geboren. Bis heute hat er ein Freiticket, kann lebenslänglich umsonst in der Türkei mit dem Zug fahren. Auch bei meiner Großmutter war ein Baby unterwegs, das es aber leider nicht geschafft hat. Es ist verstorben. Meine Zunge mag das alles zwar jetzt so schnell erzählen, aber das Elend und das Leid wurden mir schon in die Wiege gelegt.
Meine Vorfahren landeten in einem Dorf namens Yerköy, das zu der Stadt Yozgat gehörte. Soweit du schaust nur Stock und Stein. Jede Familie bekam ein Stück Land zum Bebauen und ein Haus zum Bewohnen. Einige der Häuser stehen immer noch. Die Wände waren aus Kuhdung und Stroh. Billig und luftdurchlässig. Meine Großeltern hatten insgesamt zehn Kinder, zwei sind früh verstorben, von den anderen leben einige heute noch. In dem Chaos der großen Umstrukturierung versuchten meine Vorfahren, sich eine neue Existenz aufzubauen, sich an das neue Leben anzupassen. Vorher in großem Reichtum, lebten sie jetzt in einer Baracke ohne Strom, ohne fließendes Wasser; sie hatten nichts. Der Alltag war sehr schwer. Den ganzen Tag Mühen, um gerade genug zum Essen zu erwirtschaften. Hinzu kamen Probleme zwischenmenschlicher Art. Von den Einheimischen wurden sie als Feinde betrachtet; die hatten wohl das Gefühl, ihnen würde etwas weggenommen werden. Die türkische Regierung versprach den Eingewanderten, den sogenannten osmanischen Türken: Wer ein Haus will, soll ein Haus bekommen, wer Land zum Bewirtschaften will, soll Land bekommen. Teilweise war es nichts als Propaganda, teilweise geschah es auch wirklich.
Jeder Familie versprach die Regierung circa 10.000 Quadratmeter Land pro Kind. Mit allen Angehörigen kam meine Familie so auf 286.000 Quadratmeter, also fast 30 Hektar.
Der muhtar, der Bürgermeister, ging mit einem Regierungsbeamten von Tür zu Tür, um die Menschen über das Förderprogramm der Regierung zu informieren. Als er an die Tür meiner Vorfahren klopfte, ließ meine Großmutter durch die Kinder fragen, wer dort sei. Zwischen Tür und Angel versuchten sie ihr zu erklären, dass die Familie nun ein Grundstück bekäme, um darauf etwas aufzubauen. Meine Großmutter, die leider nur wenig Bildung hatte, nahm ihnen das nicht ab. Sie dachte, jetzt käme wieder irgendein Ärger, und scheuchte sie weg. Sie war so verängstigt und eingeengt in ihrem Denken, dass sie sich nicht vorstellen konnte, dass ihr nach all dem Elend bisher nun jemand plötzlich etwas Gutes tun wollte.
Nach zwei, drei weiteren Besuchen und nachdem mein Großvater davon Wind bekommen hatte, wurde ihnen tatsächlich Land übereignet. Gleichzeitig wurde damit aber auch die Saat gesät für eine fitne, für Unfrieden. Die alteingesessenen Dorfbewohner waren schockiert, dass die Zugezogenen so viel Land geschenkt bekamen. Es herrschte damals sehr große Armut. Essen und Trinken waren knapp, für ein Schaf war man bereit, einen Hektar Land zu geben, fünf Hektar für zehn Liter Olivenöl.
Trotz aller Kraftanstrengung gelang es meinen Vorfahren nicht, das Land ertragreich zu bewirtschaften. Die Kinder wuchsen heran, die ältesten Töchter wurden 13, 14. Eines Tages gingen sie ins Dorf, um an der dortigen Quelle Wäsche zu waschen. Eine Gruppe von drei, vier Männern machte sie an, wollte sie begrapschen. Erschrocken flüchteten die Mädchen zurück nach Hause. Es gab Gerüchte im Dorf, wonach unser Führungsrat große Goldstücke in seiner Wohnung versteckt hätte. Dorfbewohner brachen in die Häuser der zugezogenen Familien ein. Durch Terror sollte ihnen Angst gemacht werden. Es gab sogar eine Schießerei, bei der jemand am Bein verletzt wurde. Als abzusehen war, dass der Ärger hier wohl nie aufhören würde, entschieden sich die Familien, ihre Häuser und Grundstücke zu verlassen und nach Istanbul zu ziehen, bevor die Kinder ins Heiratsalter kommen und vielleicht noch größeres Unheil geschehen würde.
Wieder stiegen sie in den berühmten Schwarzen Zug – der wird uns bis Europa begleiten.
Meine Vorfahren landeten in einem kleinen Ort namens Adapazarı, circa 100 Kilometer von Istanbul entfernt. Mein Großvater verdiente dort den Unterhalt für die Familie mit Tragediensten. Säcke voller Kartoffeln, Tomaten und so weiter – so viel nur irgend ging, lud er sich auf den Rücken. Leider Gottes verletzte er sich durch die schweren Gewichte und wurde schwer krank. Autos gab es damals in dieser Gegend noch nicht; wer eine Pferdekutsche hatte, konnte sich schon glücklich schätzen. Meine Großmutter ging zu den Reichen Wäsche waschen. Die Kinder blieben währenddessen sich selbst überlassen, die älteren passten auf die jüngeren auf.
Trotz dieser schwierigen Verhältnisse schafften es meine Vorfahren, wieder neu anzufangen. Sie pachteten ein Stück Land, und einer meiner Onkels ging zur Schule und lernte Lesen und Schreiben. Meine Mutter – sie hieß Safiye – war immer auf dem Feld. In den Pausen bat sie ihren Bruder, der etwas älter war als sie, ihr das Alphabet beizubringen. Mit einem Stock kratzten sie die Buchstaben in den Boden. Sie lernte das Alphabet quasi auf der Erde beim Kartoffelgraben.
Mein Großvater verstarb nach einiger Zeit, er wurde nur 37 Jahre alt. Leider habe ich ihn nie kennengelernt. Nach seinem Tod wusste keiner so richtig, was jetzt mit den Grundstücken passieren sollte. Sie hatten Land ohne Ende, aber wie sollte es meine Großmutter mit acht Kindern bewirtschaften? Die älteste Tochter wurde verheiratet; zu dieser Zeit heiratete man schon im Alter von 16 oder sogar 15 Jahren. Kurz nach ihrer Hochzeit wurde sie schwanger.
Zu dieser Zeit startete Deutschland eine Riesenkampagne nach dem Motto: »Liebe türkische Mitbürger, wir brauchen eure Unterstützung für unsere Industrie«. Ihre Brüder hatten nicht den Mut, aber meine Mutter sprach wie ein Mann: Ich gehe auf diese Reise. Ich will die Familie unterstützen und fange in Deutschland als Gastarbeiterin an. Meine Großmutter hatte Bedenken: Safiye, meine Tochter, du bist doch erst 14 Jahre alt. Was denkst du, wer du bist? Aber letztlich stimmte sie zu. Sie vertraute meiner Mutter; sie war wie eine Soldatin, hatte trotz ihres jungen Alters schon viel erlebt. Bei den Behörden machten sie sie etwas älter, damit sie überhaupt eine Chance hatte, als Gastarbeiterin genommen zu werden. Bei der Untersuchung beschaute man ihr Gebiss, guckte ihr in die Augen – ein kerngesunder jugendlicher Mensch. Sie bekam ein Okay. Zum Abschied wurde ein Hahn geschlachtet, ein Festmahl wurde veranstaltet, die Familie gab ihr noch ein bisschen Wegegeld, und dann stieg meine Mutter in den Schwarzen Zug nach Deutschland.
Zu dieser Zeit, 1972, wurden die Gastarbeiter quasi mit roten Teppichen empfangen. Die Deutschen freuten sich, fanden sie superinteressant, bewunderten sie wegen ihrer dunklen Augen und schwarzen Haare – genauso wie umgekehrt die Südländer die Nordländer wegen ihrer goldenen