Rolf Schneider

Janowitz


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Österreich-Ungarn noch das mit diesem verbündete und sehr mächtige Deutschland.

      Ob Serbien tatsächlich angegriffen werde?

      Niemand wisse das. In Wien gebe es Kräfte, die einen militärischen Angriff unbedingt wollten. Sofern er, Charlie, die Zeitungen richtig lese, gebe es ähnliche Kräfte auch in Berlin.

      Ein großer Krieg also?

      Der wäre die Folge.

      What will happen to me?, fragte aufgeregt May-May. Was dann aus ihr würde?

      Man werde schon eine Lösung finden, sagte Charlie. I’m sure we’ll find a solution.

      Er nahm seine Tabakspfeife aus dem kristallenen Aschenbecher und entzündete sie neu. Er rauchte, griff nach seiner Zeitung, der Neuen Freien Presse, und las darin weiter. Dass er aktiv an einem möglichen Krieg teilnehmen müsse, war unwahrscheinlich, wusste May-May. Als er früher zu einer Offiziersausbildung hatte antreten wollen, war er ausgemustert worden, aus gesundheitlichen Gründen.

      Am einem der folgenden Abende las Rilke aus seinen Arbeiten. Sidonie hatte ihn mehrmals darum gebeten. Zunächst hatte er sich etwas geziert und erwähnte körperliches Unwohlsein in der Folge seiner Zahnbehandlung. Inzwischen trug er seit Tagen eine funkelnde Goldkrone in seinem Gebiss, die, wenn er den Mund öffnete, so beim Verzehr seines Körnerbreis, auch zu erkennen war.

      Als Sidonie Rilke gebeten hatte, war Kraus zugegen gewesen. Er hatte nichts gesagt, wiewohl ihn die Sache ärgerte. Selber hatte er eine öffentliche Lesung des Dichters schon erlebt, vor langer Zeit, in Wien, Sidonie kannte er damals noch nicht. Seine Erinnerung an jenen Abend war diffus, er wusste bloß, dass Rilke zu leise gesprochen hatte. Jetzt konnte er herausfinden, ob sich daran etwas geändert hatte. Wenn er selbst seine Texte vor Zuhörern sprach, geschah dies mit schneidend scharfer und für jedermann verständlicher Stimme. Er tat das regelmäßig.

      Draußen im Park war Dämmerung. Das Dienstpersonal hatte Kerzen aufgestellt und angezündet. Die Zuhörer waren außer Kraus, Sidonie, Charlie und May-May Rilkes Zahnarzt aus Beneschau mit seiner Frau, einer hochbusigen Blondine, außerdem Sidonies Freundin Pejačevič, die erst diesen Nachmittag eingetroffen war, Kraus hatte sie zuvor nie gesehen. Rilke trug seinen hellen Anzug mit der fliederfarbenen Krawatte. Den für ihn bereitgestellten Sessel verschmähte er und wollte lieber, wie er es gewohnt war, im Stehen vortragen.

      Er begann mit etlichen seiner Dinggedichte. Dazu hielt er ein Buch in den Händen, aus dem Papierstreifen als Lesezeichen heraushingen, kleine weiße Zungen. Manche seiner Verse wusste er auswendig. Seine Stimme war melodiös und hatte einen starken oberdeutschen Akzent.

      Unter den Gedichten waren »Der Panther«, »In einem fremden Park« und »Die Fensterrose«. Der Park befand sich offensichtlich in Skandinavien, von einer Freiin Brite Sophie war die Rede, doch dieser Name hätte ganz gut Freiin Sidonie lauten können, eine gewisse Klangähnlichkeit war gegeben, und also war mit dem Park ebenso der von Janowitz gemeint.

       Was stehst du oft? Was hören deine Ohren?

      Und warum siehst du schließlich, wie verloren,

      die Falter flimmern um den hohen Phlox.

      Es blühte viel Phlox in Janowitz. Auch Schmetterlinge flatterten hier reichlich. Kraus drehte den Kopf zu der neben ihm sitzenden Sidonie, die ein dankbares Lächeln zeigte, offenbar hatte sie Rilkes Verse genau so verstanden wie von Kraus geargwöhnt und von Rilke wohl gemeint.

      Draußen, hinter den Fenstern, breitete sich Dunkelheit aus. Sterne begannen zu flimmern. Sidonie winkte einem Diener, dass er die weißen Tüllgardinen vor die Scheiben zog, es machte den Raum intimer.

      Kraus entdeckte, dass er sich der Eindringlichkeit von Rilkes Wortkunst nicht völlig entziehen konnte. Wieso war ihm niemals der Einfall gekommen, selbst derartige Verse zu verfassen? Hantierte er nicht gleichfalls mit Versmaß und Reim? Was er dann von sich selbst in »Die Fackel« setzte, klang durchweg kalt und spöttisch, in der Manier des von ihm geschätzten Frank Wedekind. Wieso schrieb er keine zärtlichen Verse über die Natur, über Landschaften, über Frauen, über die Liebe? Wieso probierte er dies nicht?

      Rilke schien Sidonies dankbares Lächeln bemerkt zu haben. Sein Vortrag wurde sicherer. Er las weitere Park-Gedichte, er las ausführliche Strophen über eine Rosenschale und las »Archaischer Torso Apolls«. Hier lauteten die abschließenden Worte: Denn da ist keine Stelle, die dich nicht sieht. Du musst dein Leben ändern. Kraus bemerkte, wie Rilke ihn dabei ansah. Mit dem Menschen, der da sein Leben ändern sollte, sollte offenbar er, Karl Kraus, gemeint sein, was nichts anderes als eine sublime Frechheit war.

      Rilke goss aus einer für ihn bereitstehenden Karaffe Wasser in ein Glas und trank. Dann sagte er, dass er seit Längerem an einer großen Arbeit sitze, eine Serie von Elegien, die zu vollenden ihm bislang nicht vergönnt gewesen sei. Drei habe er fertiggestellt und bereits aus der Hand gegeben, und es sei ihm ein Bedürfnis, die erste davon an diesem von ihm so geliebten Ort vorzutragen.

      Er nahm ein paar hellblaue Papierbögen zur Hand und las ab:

       Wer, wenn ich schriee, hörte mich denn aus der Engel

       Ordnungen? und gesetzt selbst, es nähme

       einer mich plötzlich ans Herz: ich verginge von seinem

       stärkeren Dasein. Denn das Schöne ist nichts

      als des Schrecklichen Anfang, den wir noch grade ertragen,

      und wir bewundern es so, weil es gelassen verschmäht,

      uns zu zerstören. Ein jeder Engel ist schrecklich.

      Kraus war irritiert. Was wurde denn hier ausgesagt? Es ging um einen Engel, der einen menschlichen Aufschrei hörte. Möglicherweise würde er sich des Schreiers annehmen. Um welchen Engel handelte es sich? Bekannt waren Namen wie Michael, Gabriel und Raphael, alle drei Erzengel, was zu der vom Dichter behaupteten Ordnung passen würde. Engel waren himmlische Boten. Nach Lehre des Scholastikers Thomas von Aquin handelte es sich bei ihnen um wesenlose Geschöpfe, die, weil keinen Blutkreislauf, auch kein Herz hatten, an das sie jemanden hätten nehmen können. War hier das Herz bloß eine Metapher? Wie aber konnte einer Metapher ein so starkes Dasein haben, dass jemand daran verging, also sich auflöste? Alles erhabener Unsinn. Wie aber stand es um die Behauptung, das Schöne sei bloß des Schrecklichen Anfang? Sie widersprach aller normativen Ästhetik und aller allgemeinen Erfahrung. Dass dieses Schön-Schreckliche auf Zerstörung verzichtete, nun ja, man konnte es bewundern. Dass aber sämtliche Engel schrecklich seien, verstieß gegen alle christliche Theologie. War Rilke nicht römisch-katholisch getauft, so wie er, Karl Kraus?

      Draußen, vor den Fenstern, wurde es Nacht. Hinter die transparenten Gardinen hatte sich ein abnehmender Mond gesetzt. Die Kerzen flackerten, in deren Widerschein der kleinwüchsige Rilke wie ein Priester wirkte.

      Von sich selbst hingerissen, skandierte er weiter. Seine im Hölderlin-Ton abgefasste Klage über menschliche Unzulänglichkeiten erwähnte Getier, Bäume, Liebende, Jungverstorbene. Der wenig bekannte griechische Halbgott Linos kam vor, ebenso Gaspara Stampa, eine venezianische Hure und Dichterin aus der Renaissance. Die überquellende Flut aus dunklen Bildern und rätselhaften Anspielungen floss, hexametrisch gegliedert, aus Rilkes schnurrbärtigem Mund. Kraus entschloss sich, das aufwendige Wortgeklingel des Dichters endgültig nicht zu mögen. Er blickte auf die neben ihm sitzenden Sidonie. Diesmal lächelte sie nicht. Kraus vermutete, dass ihr die eben gehörte Elegie Verständnisprobleme bereitete. Wenn Rilke auf sie Eindruck machen wollte, hatte er sich hier vertan.

      Der trank erneut aus dem Wasserglas. Er sagte dann, er wolle mit einem früheren Gedicht schließen. Es heiße »Der Dichter«, Kraus verstand dies so, dass Rilke damit sich selber meinte:

      Du entfernst dich von mir, du Stunde.

      Wunden schlägt mir dein Flügelschlag.

       Allein: was soll ich mit meinem Munde?

       mit meiner Nacht? mit meinem