Wenzel benennen konnten?
Der Zahnarzt setzte den Bohrer ab. In fast akzentfreiem Deutsch sagte er, dass er Rilke eine Goldplombe einsetzen wolle. Die Rechnung dafür, wusste Rilke, würde Sidonie begleichen.
Karl von Nádherný, von Angehörigen und Freunden Charlie gerufen, begab sich, als seine Schwester den Dichter Rilke in ihr Automobil gesetzt hatte, um ihn nach Beneschau zu fahren, in sein Arbeitszimmer. Auf dem Schreibtisch häuften sich Unterlagen und Akten. Seine Aufgabe war es, sämtliche wirtschaftlichen Entscheidungen der Domäne zu fällen und zu überwachen, das betraf Äcker, Weiden, Gebäude, Teiche, Viehbesitz, Ernteerträge, Fischfänge, Einkäufe, Fahrzeuge, Maschinen, Pachten und Löhne. Sidonie war an Ökonomie nicht interessiert und verließ sich dabei völlig auf ihren Bruder. Nach dem Tode des Vaters hatte zunächst sein Bruder Johannes die Verwaltung übernommen. Charlie hatte ihm bloß dabei geholfen. Johannes hatte auch den Einfall gehabt, zusätzliches Land einschließlich zweier Siedlungen zu kaufen, bezahlt aus einer auf die Familie gekommenen Erbschaft. Die Nádhernýs rückten damit zu einem der größten agrarischen Unternehmer der Region auf.
Johannes war tot. Er war der Liebling der Mutter gewesen, und ebenso hatte Sidonie sich entschiedener an Johannes angeschlossen als an ihn, Charlie, den das etwas kränkte und der sich auch sonst von der Familie zurückgesetzt fühlte.
Johannes hatte sich vor einem Jahr umgebracht. Über seine Gründe wurde ungern gesprochen, meist war von Schwermut die Rede. Gesund war Johannes schon länger nicht gewesen, er war abgemagert, hatte sich eine schwere Gelenkverletzung zugezogen und war depressiv, doch zeigte er sich dann auch wieder überraschend fröhlich und genesen. In etlichen renommierten Sanatorien hatte er Kuren angetreten, die ihm zu helfen schienen.
Johannes war liebenswürdig. Die Leute mochten ihn. Er war umfassend interessiert, las viel, besuchte Kunstausstellungen, sammelte Bilder und Möbel, an der Prager Universität hatte er Philosophie belegt. Die intime Beziehung zu seiner Schwester änderte sich, als Sidonie ihre wechselvolle Liebesbeziehung mit dem Kunstmaler Švabinsky begann, von der niemand erfahren sollte und von der die gesamte Familie gleichwohl wusste. Johannes seinerseits fasste eine leidenschaftliche Neigung zu Niny Mladota, seiner Jugendfreundin aus dem Nachbarschloss Červeny Hrádek, der er Liebesbriefe schrieb und die seine Gefühle leider nicht erwiderte. Er tröstete sich damit, dass er in Prager Bordellen verkehrte, wo er sich gleich zwei Krankheiten einfing, Gonorrhoe und Lues. Davon sollte niemand erfahren, und die gesamte Familie wusste es gleichwohl. Johannes ließ sich behandeln. Die Therapie schien anzuschlagen, aber dies war nicht von Dauer. Schwarz wie der Himmel stehe vor ihm die Welt, schrieb er in einer Notiz. Am 28. Mai 1913 nahm er sich in München das Leben.
Sidonie war unterwegs, als es geschah. Sie hatte mit May-May, ihrer Vertrauten, eine längere Reise angetreten, nach Livorno, Neapel, Sizilien und schließlich, auf einem Schiff, nach Tunesien. Als der Selbstmord geschah, befand sie sich in Paris, wo die Frau des Schriftstellers Rilke eine Porträtbüste von ihr anfertigte. Die Nachricht vom Tod ihres geliebten Bruders, wusste Charlie, erschütterte sie zutiefst. Sie war verzweifelt. Sie gab sich eine Mitschuld, da sie sich zuletzt mit Johannes mehrmals gestritten hatte. Rilke wusste sie aufs Einfühlsamste zu trösten, mit langen Briefen, die sie Charlie zu lesen gab, schon weil darin regelmäßig Grüße an ihn standen. Rilke schickte immer wieder Briefe nach Janowitz.
Er, Charlie, hatte den sonderbaren Dichter eigentlich gern. Die von ihm gemachten Verse verstand er nicht, aber der Mensch gefiel ihm, und die Eigentümlichkeiten, die Rilke an den Tag legte, fand er putzig. Rilke machte seiner Schwester den Hof, was ihr guttat, da sie es zu genießen schien, immer waren es abwechslungsreiche Tage und Abende, wenn Rilke, wie eben jetzt wieder, sich in Janowitz zu Besuch aufhielt. Auch sonst sorgte Sidonie dafür, dass Gäste kamen, es gab Gespräche, es gab Musik, sie spielte auf dem Flügel, Stücke von Frédéric Chopin, den sie sehr mochte.
Draußen hielt ein Automobil. Offenbar waren Sidonie und Rilke aus Beneschau zurückgekehrt. Charlie verließ sein Arbeitszimmer. Es war, sah er dann, nicht Sidonies Wagen, der angekommen war, vielmehr ein anderes Fahrzeug. Der Mann, der ihm entstieg, war der Schriftsteller Karl Kraus aus Wien.
Als er ausstieg, kam der Hund auf ihn zugelaufen, Bobby, Sidis Leonberger. Charlie rief das Tier zurück, Charlie reichte ihm die Hand und sagte, Sidonie sei noch unterwegs, sie bringe den Dichter Rilke zu einer Zahnbehandlung, nach Beneschau. Also gab es einen weiteren Gast in Janowitz. Kraus wusste, dass Sidi die Dichtungen Rainer Maria Rilkes schätzte, was er so hinnahm.
Er entlohnte den Mietchauffeur, der ihn nach Janowitz gebracht hatte. Der Domestik Ludvik übernahm das Gepäck. Charlie geleitete ihn ins Schloss.
Sidi kam kurz darauf. Kraus sah vom Fenster aus, wie sie vorfuhr. Der zierliche Mensch, der zusammen mit ihr dem Automobil entstieg, war der Dichter Rilke, den er flüchtig kannte, von einer Veranstaltung in Wien. Rilke hielt die linke Hand an der Wange, während er mit der rechten Sidonies bloßen Oberarm streichelte, was Kraus missfiel.
Seine Begrüßung Sidonies geschah überaus förmlich. Wenn, wie jetzt, Dritte zugegen waren, pflegten die beiden einander mit Sie anzureden. Sidonie wollte ihre zwei Gäste miteinander bekannt machen, worauf Kraus sagte, man sei sich schon früher begegnet. Rilke war sichtlich erstaunt: Ach, sagte er, wir kennen einander?
Wir sind uns in Wien begegnet.
Sehen Sie mir nach, wenn ich es vergessen habe? Ich treffe zahllose Menschen.
Ich auch.
Behalten Sie alle im Gedächtnis?
Alle.
Ich weiß nicht, ob ich Sie darum beneiden soll. Das Vergessen kann eine Gnade sein.
Worauf Kraus entgegnen wollte, dergleichen sei die übliche Behauptung von Leuten mit mangelhaftem Erinnerungsvermögen. Er unterließ es. Rilke nahm seine linke Hand herab. Kraus sah, dass die Wange des Dichters geschwollen war, es flößte ihm etwas Mitleid ein. Zudem mochte er jetzt, in Sidis Anwesenheit, Rilke nicht kränken.
Er kannte sie nun seit fast einem Jahr. Die erste Begegnung hatte im pompösen Plüsch des Wiener Café Imperial stattgefunden, wo er sich mit Thun getroffen hatte, einem guten Bekannten, der mit vollem Namen Maximilian Graf von Thun und Hohenstein hieß, aus der böhmischen Linie des Hauses. Im Widerspruch zu den Gepflogenheiten seiner Familie war er nicht Offizier geworden, sondern hatte Medizin studiert und praktizierte als Sportarzt und Spezialist für Bewegungsschäden. Er vertrat die Theorie, die ursprüngliche Gangart des Menschen sei jene auf allen vieren, was er auch als gymnastische Therapie zu verordnen pflegte, mit unterschiedlichem Erfolg. Außerdem hatte er die Absicht, sich zu Studienzwecken Affen zuzulegen, was Kraus höchst possierlich fand.
Max war weitläufig verwandt mit den Nádhernýs, wovon Kraus anfangs nichts wusste. Max und Sidonie waren an jenem Nachmittag verabredet, wovon Kraus gleichfalls nichts wusste. Er sah, dass eine groß gewachsene, sehr elegante und ungewöhnlich schöne Frau an ihren Tisch trat, wo sie von Max überschwänglich begrüßt wurde, ehe er sie mit Kraus bekannt machte. Kraus bemerkte, dass die Baronesse ihn unentwegt anstarrte, in einer sonderbaren Mischung aus Erstaunen und Erschrecken. Später würde er erfahren, dass er sie an ihren soeben aus dem Leben geschiedenen Bruder erinnerte. Sie würde ihm fotografische Bilder von Johannes zeigen, auf denen er kaum Ähnlichkeiten mit sich selbst entdecken konnte, schon da Johannes groß gewachsen war, größer noch als Sidonie und ihr Zwillingsbruder Karl. Wie auch immer, Sidonies Blicke waren fast eine Berührung. Er spürte, wie das Blut in seinen Schläfen zu klopfen begann.
Sie redeten. Sie redeten viel. Sidonies Stimme klang angenehm, ihre Äußerungen waren eigenwillig und in der Wortwahl präzis. Max mischte sich ständig ein, es wurde deutlich, dass er intensiv um Sidonies Zuneigung warb, was Kraus verstörte. Zu dritt brachen sie auf, um eine Ausstellung zu besuchen.
Der Rundgang dort dauerte eine Stunde. Sie besahen und beredeten Exponate, denen es um Schönheit, die Kultur, die Geschichte von Landschaften rund um die Adria ging. Dann musste Max sich verabschieden, zu seinem heftigen Bedauern, wie er sagte, doch seine ärztliche Sprechstunde werde in Kürze beginnen. Kraus und Sidonie blieben zusammen. Ihm war jetzt, als sei sie ihm schon sehr lange bekannt. Seit dem Tode von Annie Kalmar hatte er keine Frau getroffen, die