Sven Jacobsen

Goethes Faust zwischen Gott und Teufel


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       Mephisto beschließt Gretchens Verderben

       Fausts Wunsch und Mephistos Beitrag

       Mephisto nimmt Gretchen allen Halt

       Allein und verachtet

       Das Ende Gretchens

       8. Schlussbetrachtung mit einem Ausblick auf Faust II

       Zwischenbilanz: Pakt und Wette

       Ausblick auf Faust II

       Fazit

       9. Literatur

       Zitierte Ausgabe

       Textausgaben und Sekundärliteratur

       Online- bzw. Internetempfehlungen (alle Stand Mai 2021)

1. Ein Vorwort, mit Unterstützung vom äußerst verärgerten Herrn Goethe

      Aufgestauter Frust

      Publikums­beschimpfung

      An einem Freitagnachmittag eines nicht genauer bekannten Sommertages, mutmaßlich aber im Jahr 1808[1], traf Johannes Daniel Falk (1768–1826) den übellaunigen Dichter in einer schattigen Ecke seines Gartens an. Die äußerst kurzfristige Absage eines Schauspielers drohte eine für den folgenden Tag geplante Theateraufführung platzen zu lassen und verhagelte Goethe den Tag, der sich nun mit den plötzlichen Scherereien in dieser Angelegenheit abzumühen hatte. Der Besuch des Kirchenlieddichters schien ihm nichtsdestotrotz gerade recht zu sein. Er nötigte Falk Platz zu nehmen, goss sich ein Glas Rotwein ein und ließ dem aufgestauten Frust vieler Jahre freien Lauf. Er ärgerte sich über Leute, die ihm Tag für Tag Arbeit und Probleme aufhalsen konnten, obwohl sie nur kurz nach Weimar kamen und es schnell wieder verlassen wollten. Und dass er nach all den Jahrzehnten als bekannter Schriftsteller und als Geheimrat am Hofe in dieser „Tragikomödie“ eine Hauptrolle spielen müsse! Das ganze Theaterwesen sei doch im Grunde nichts als Dreck! Falks Versuch, ihn mit Blick auf eine in der Sache gerechtere Nachwelt zu beruhigen, die seine Bemühungen zu schätzen wisse, stachelte Goethe aber erst recht an, sich über die Deutschen im Allgemeinen und den Publikumsgeschmack im Besonderen auszulassen:

      „Ich verwünsche den Tasso, bloß deshalb, weil man sagt, dass er auf die Nachwelt kommen wird; ich verwünsche die Iphigenie, mit einem Worte, ich verwünsche alles, was diesem Publikum irgend an mir gefällt. (…) Sie mögen mich nicht! Das matte Wort! Ich mag sie auch nicht!“[2]

      Die tiefe Verärgerung (Goethe gebraucht sogar das Wort „Hass“) scheint mit Blick auf den ganzen Gesprächsverlauf an der Tatsache zu liegen, dass Goethe sich immer wieder dem üblen Gerede der Leute ausgesetzt sah. Es machte ihm zu schaffen, wie sehr die Deutschen weder ihn noch seine Werke richtig begriffen. Er attestierte an diesem Tag den Deutschen die Unfähigkeit, weder richtig hassen noch lieben zu können (über diese Extreme wird zu sprechen sein), und er machte sich über das seit Jahrzehnten andauernde „Interpretieren und (…) Allegorisieren“ (ebd.) seiner Werke lustig.

      Nationaldichter oder Skandalautor?

      Dieses Gespräch mit Johannes Falk ist nicht das einzige, aus dem man etwas über die keineswegs einfache Beziehung zwischen Goethe und seinem Publikum erfahren kann. Die von Bewunderung und Ehrfurcht geprägte Rezeption der Werke Goethes, der Kult um den „Nationaldichter“, die Denkmäler und der feste Platz in jedem Schulbuch, all das prägt sicherlich die Wahrnehmung Goethes. Dass Goethe aber schon früh mit Anfeindungen seiner Werke zu kämpfen hatte, gerät leicht außer Acht. Die Römischen Elegien sind ein Beispiel, wie scharf künstlerische Freiheit und das Spiel mit Antike und Erotik gegen die engen Moralvorstellungen des 19. Jahrhunderts krachten. Man muss nicht lange in den insgesamt mehr als 32.000 Briefen lesen, die an Goethe geschickt und von ihm verschickt wurden, oder die Bände mit den Gesprächen, dem Klatsch sowie all die Rezensionen seiner Werke, um schnell festzustellen, wie sich Goethe wieder und wieder mit einem Publikum auseinanderzusetzen hatte, das mit ihm und seinen Werken nicht immer zurechtkam und oft genug in diesem Zusammenhang auch sein Privatleben thematisierte. So wurde beispielsweise seine uneheliche Beziehung mit Christiane Vulpius im wahrsten Sinne des Wortes zur Staatssache aufgebauscht.

      Die Wal­purgis­nacht-Szene als Schlüssel zu Faust?

      Das Gespräch an jenem Sommertag mit Johannes Falk wandte sich bald dem Faust und besonders der Szene Walpurgisnacht zu. Es deutet entscheidende Überlegungen Goethes zum Drama an sowie den Entschluss, einem Streit mit dem ungeliebten und kritiksüchtigen Publikum auszuweichen – durch Selbstzensur. Auch wenn man annehmen muss, dass Goethe einen schlechten Tag hatte und manches übertrieben formulierte, so ändert das nichts an der Tatsache, dass er sich schon seit längerem vom deutschen Publikum unverstanden fühlte. Es scheint sich zu lohnen, den Andeutungen Goethes nachzugehen, um zu sehen, ob sich dadurch nicht ein anderes Verständnis des Werks ergibt.[3]

      Noch eine Faust-Deutung?

      Selbstverständlich ist mir bewusst, dass der Faust seit mehr als 200 Jahren Zuschauer:innen und Leser:innen fasziniert und für derart viele Veröffentlichungen gesorgt hat, dass kein Menschenleben ausreicht, auch nur einen Bruchteil davon zu lesen. Man findet vielleicht noch nicht einmal genau heraus, was zu einer bestimmten Überlegung wo bereits in ähnlicher Form steht, so viel ist geschrieben worden. Und natürlich gibt es auch nicht den einen und besonderen Ansatz, um dieses reiche Werk zu begreifen.

      Gedanklicher Reichtum Goethes

      Zur Vorgehensweise: Die vorliegende Erläuterung ist für die Schule gedacht. Es soll sich zeigen, dass bewährte Textarbeit eine sicherlich aufwändige, aber bestimmt erfüllende Vorgehensweise ist, um sich einem kompliziert und schwer verständlich erscheinenden Werk zu nähern. Selbst wenn man dabei an Grenzen stößt, so sind der gedankliche Reichtum und die sprachlichen Finessen Goethes diese Mühen allemal wert. Man kann nur für sich selbst gewinnen. Die methodischen Kriterien für literarische Interpretationen werden deshalb zunächst vorgestellt. Der Analyse liegt aus praktischen Gründen die gängige Textausgabe von Goethes Faust. Der Tragödie Erster Teil von Reclam XL Nr. 19152 zugrunde (seiten- und zeilenidentisch mit RUB Nr. 1), hrsg. von Wolf Dieter Hellberg, Stuttgart/Ditzingen 2014.

2. Eine kurze Einführung in die Interpretation literarischer Werke

      Text als Medium

      Verarbeitung menschlicher Erfahrungen

      Auch wenn (ältere) literarische Texte mitunter sprachlich und thematisch schwer zugänglich erscheinen, ändert es nichts an der Tatsache, dass sie wie alle Texte verstanden werden wollen. Es spielt auch keine große Rolle, ob es sich um einen erzählerischen, lyrischen oder Dramentext handelt. Ein literarischer Text wurde in der Regel mit dem Wortschatz einer bestimmten Sprache verfasst, gehorcht den Regeln der Grammatik und bedient sich verschiedener Gestaltungsmittel, um seine Botschaften zu vermitteln und etwas zum Ausdruck zu bringen. Alle Regelabweichungen haben eine Bedeutung. Der Text ist das Mitteilungsmedium zwischen Autor:in und Leser:in, die beide für gewöhnlich einen Großteil des gleichen Sprachwissens und oft genug ähnliche Erfahrungen teilen. Der Autor oder die Autorin eines Textes nutzt dieses Medium, um grundlegende menschliche Erfahrungen wie Liebe, Schmerz, Glück oder Unglück zu verarbeiten.

      Es ist sehr bedauerlich und mit Sicherheit auch falsch, wenn man vor einem Gedicht, Drama oder anderen Texten Goethes zurückschrecken würde