Sven Jacobsen

Goethes Faust zwischen Gott und Teufel


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Und nach etwas Zeit zum Einlesen geht man so gut wie immer mit einem Erkenntnisgewinn aus der Beschäftigung mit seinen Texten heraus. Zugegebenermaßen gehört ein wenig Durchhaltewillen zum Geschäft; so wie die Zeit zum Wandern, wenn man das Ziel erreichen möchte.

      Spezifische Gattungs­unterschiede

      Es ist sinnvoll, von verallgemeinerbaren Analysekriterien auszugehen, eben weil Texte gleich welcher Form letztlich Texte sind. Die Kriterien können gegebenenfalls um die wenigen Aspekte ergänzt oder abgeändert werden, die sich aus den spezifischen Unterschieden der Literaturgattung herleiten. Zum Drama fallen einem beispielsweise Auffälligkeiten in der Makrostruktur ein, wie die Einteilung in Akte, Szenen, Orte, Figuren oder das Verhältnis von Haupt- und Nebentext.

      Lektüretipp

      Es gibt viele vorzügliche Bücher, die in die Interpretationsmethodik einführen, sodass es beinahe ungerecht wäre, wenn man auf ein bestimmtes Werk verweist und andere nicht nennt. Ich persönlich, und das ist wirklich rein subjektiv, hatte mein sog. Aha-Erlebnis nach der Lektüre von Bernd Matzkowskis Bänden mit dem Titel Wie interpretiere ich?, ergänzt um die jeweilige Gattung, also beispielsweise Wie interpretiere ich ein Drama? In ihnen wird eine grundsätzliche Vorgehensweise vorgestellt. Generell ist man gut beraten, sich im Wesentlichen an die folgenden Analyseschritte zu halten[4]:

      Acht Analyse­schritte

      1 Das allgemeine Thema/Problem des Textes erkennen, was nicht den Inhalt meint, sondern das dem Inhalt Übergeordnete, das durch den Inhalt zum Ausdruck gebracht wird.

      2 Das inhaltliche Geschehen, den Handlungsablauf verstehen und ggf. Unklarheiten beseitigen.

      3 Den allgemeinen Aufbau des Textes und die damit verbundene Funktion beschreiben.

      4 Die Wortwahl eines Textes untersuchen, Auffälligkeiten festhalten und die Funktion der Auffälligkeiten erklären.

      5 Die grammatische Gestaltung des Textes beschreiben und die Funktion für den Text und seine Wirkung erläutern.

      6 Literarische bzw. rhetorisch-stilistische Gestaltungsmittel erkennen und ihre Funktion innerhalb des Textes verständlich machen.

      7 Die Aussageabsicht des Textes zusammengefasst darlegen.

      8 Ergänzend über den eigentlichen Text hinausgehende Fakten, die mit ihm aber in einer konkreten Beziehung stehen, bedenken, z. B. biografische, historische oder literaturgeschichtliche Bezüge.

      Die jeweiligen Elemente stehen in einer Wechselwirkung und tragen auf ihre Weise dazu bei, eine bestimmte Stimmung zu vermitteln, eine Situation zu veranschaulichen oder einen Charakter näher zu gestalten. Diese Vorgehensweise ist nie verkehrt, egal welcher literarische Text vor einem liegt. Die Probleme entstehen, wenn man in der Analyse sachliche Fehler macht, etwas unangemessen gewichtet oder überzogene Behauptungen aufstellt. Leider muss man zugeben, dass es keinen goldenen Weg und keine Musterlösung im interpretatorischen Umgang mit Literatur gibt. Das ist die große Herausforderung. Es ist übrigens nicht das schlechteste Zeichen, wenn jemand nach einer gewissen Zeit die Dinge anders bewertet oder bestimmte Formulierungen so nicht mehr vornehmen würde.

      Warum es die Mathematik leichter hat

      Die Mathematik hat es besser: Innerhalb ihres Regelwerkes sind mitunter verschiedene Lösungswege denkbar und richtig, andere dagegen eindeutig falsch. Ein Interpretationsaufsatz ist dagegen quasi eine komplexe schriftliche Mitteilung zu einer Fragestellung und die Rückmeldungen von Leser:innen, sei es in Form von Noten, Kommentaren oder Rezensionen, immer eine subjektive Einschätzung. Obwohl es innerhalb eines Aufsatzes objektiv Richtiges und Falsches gibt, ist das Gesamtbild für den Bewerteten mitunter eine Überraschung, weil auch die sprachliche Eleganz oder das Ausmaß der Sprachrichtigkeit eine Rolle in der Bewertung spielen.

      Hilfreiche Erkenntnisse

      Zum Faust würden aufmerksame Schüler:innen gewissen Alters nach einer ersten Lektüre gemäß der oben genannten Kriterien auf Anhieb einige hilfreiche Erkenntnisse festhalten können. In etwa so:

       Die Tragödie behandelt die menschliche Sehnsucht nach Erkenntnis und Lebensglück. Dabei werden auch andere Themen berührt (Vorgehensweise s. o., Punkt 1).

       Inhaltlich geht es um den zutiefst verzweifelten Gelehrten namens Faust, der mit seinem Leben und seinen Möglichkeiten als Wissenschaftler nicht mehr zufrieden ist und an den Selbstmord denkt. Er wird vom Teufel Mephisto nach einem Pakt mit neuen Erfahrungen konfrontiert. Faust lernt ein junges Mädchen mit dem Namen Gretchen kennen und lieben, aber die Beziehung scheitert. Gretchen wird unehelich schwanger, tötet ihr Kind und wird hingerichtet; Faust hat ihr nicht zur Seite gestanden (Punkt 2).

       Der Faust I ist ein Drama, genauer: eine Tragödie, und man erkennt keine klassische Einteilung in fünf Akte, wohl aber gibt es viele einzelne Szenen, viele Handlungsorte, einen langen Handlungszeitraum und viele Figuren, wobei Faust, Mephisto und Gretchen die Hauptfiguren sind. Das Drama weicht damit entschieden von klassischen Dramen ab. Es ist in Versen und Reimen verfasst, die ständig wechseln, was mit dem jeweiligen inhaltlichen Kontext zu tun hat. Was die Untersuchung der Wortwahl, der Syntax oder der literarischen Mittel angeht, müsste man sich besser auf eine bestimmte Szene konzentrieren, um nach ihrer Gestaltung zu sehen. Insgesamt hat das Stück kein glückliches Ende, und der Pakt zwischen Mephisto und Faust ist am Ende von Faust I nicht erfüllt (Punkt 3–7).

       Goethe hat den Faust fortgesetzt, und in Faust II erlebt Faust eine Reise durch die Welt und Zeit, bevor er stirbt. Am Faust hat Goethe gute 62 Jahre gearbeitet und es sind viele Deutungen möglich (Punkt 8).

      Bewährte Hilfsmittel

      Schüler:innen, die das auf Anhieb ohne weitere Kenntnisse und nach nur einmaliger zügiger Lektüre so festhalten könnten, wären gut aufgestellt. Man könnte sicher sein, dass sie sich die konkreten Hilfsmaterialien beschaffen, selbstständig recherchieren und sich nach und nach einarbeiten. Im Literaturanhang sind einige der bewährten Hilfsmittel aufgeführt.

      Ein Interpretationsversuch gelingt in der Regel überzeugend, wenn man nach dem Lesen und der Gewissheit, das inhaltliche Geschehen verstanden zu haben, das Hauptproblem bzw. das Thema festhält und danach Schritt für Schritt schaut, wie die einzelnen Gestaltungsmittel auf ihre Weise dazu beitragen, das unterstützend zum Ausdruck zu bringen. Ein Beispiel wäre die Szene Trüber Tag. Feld. Schon nach wenigen Zeilen wird klar, dass Faust außer sich ist vor Verzweiflung, als er erfährt, was aus Gretchen geworden ist, und auch voller Wut auf den Verursacher der Lage, Mephisto. In der Wortwahlanalyse kommt man so schnell nicht aus dem Zitieren heraus, wenn man „Wut“ einerseits und „Verzweiflung“ andererseits belegt. Anschließend wird man feststellen, dass beides auch syntaktisch zum Ausdruck kommt, da Faust keine vollständigen Sätze zu bilden imstande ist und die vielen Ausrufesätze seine unkontrollierte Erregung zeigen. Goethe hat vermutlich deshalb auch auf eine Versgestaltung verzichtet. Die weiteren Analyseschritte schließen sich jedenfalls in diesem Sinne an, was dann etwas leichter fällt, weil man die entscheidende Eingangshürde bereits genommen hat und sich somit ein analytisch-interpretatorisches Vorgehen ergibt, das einem roten Faden systematisch folgt.

      Das Vorhaben

      Im folgenden Kapitel wird eine zentrale Deutung des Faust ausgeführt, namentlich die Auseinandersetzung von Gut und Böse, Gott und Teufel. Dafür wird eine wichtige Szene unter die Lupe genommen, um die gerade vorgestellten Analysekriterien in Aktion zu sehen. Das Ziel soll sein, dass eine in sich geschlossene Interpretation vor dem Kontext der Gesamthandlung entsteht, an der sich alles Weitere orientiert.

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