„Liebe deinen Nächsten wie dich selbst!“ Die Lebensgeschichte der Susanne Bechstein
wollten sie mich zur Vernunft bringen und es hieß, ich solle mir lieber einen Freundeskreis suchen, der meiner würdig sei. Oh nein, so geht ihr nicht mir um! Meine Würde lasse ich mir von niemandem nehmen! Deshalb antworte ich diesen Menschen, die es nur gut mit mir meinen, ich hätte sehr wohl den richtigen Freundeskreis, schließlich kenne ich obdachlose Menschen, die aus der sogenannten „Oberschicht“ kommen, die sogar ein Studium absolviert haben und aus welchen Gründen auch immer heute auf der Straße leben. Sie erzählen mir gerne aus ihrem früheren Leben, als sie noch in einer gehobenen Position ihr Geld verdient haben und ihr Leben so verlief, dass andere es als „normal“ bezeichnen würden. In unserer hektischen Gesellschaft gibt es aber immer mehr Menschen, die ohne Tabletten den Druck im Berufsleben nicht aushalten. Da bleibt ein Burnout oftmals nicht aus. Auch wenn ich nicht so leben wollte und könnte wie diese Menschen, aber jeder Mensch muss doch für sich selbst entscheiden dürfen, was für ihn das Beste und Richtige ist. Manch einer hat darauf gar keinen Einfluss und gerät wie von selbst in eine Situation, die andere als anrüchig empfinden.
Natürlich haben meine Freundinnen ebenfalls ein gutes Herz. Auch sie sind großzügig und geben der einen oder dem anderen auf der Straße oft einen Euro oder auch etwas mehr oder kaufen diesen Menschen etwas zu essen. Für mich sind Menschen, die von vornherein ein Schwert brechen, einfach überheblich und sie wissen nicht, was Nächstenliebe tatsächlich bedeutet. Ich wünsche ihnen, dass sie nicht eines Tages selbst auf fremde Hilfe angewiesen sind, denn die Würde eines jeden Menschen ist unantastbar!
Natürlich habe auch ich über Jahrzehnte hinweg einen Prozess durchgemacht und nehme heutzutage Dinge nicht mehr so wichtig wie in meiner Jugendzeit. Auch ich war vor Jahrzehnten einmal in einer prekären Situation, die mich daran zweifeln ließ, ob meine Nächstenliebe in diesem Fall möglicherweise doch nicht angebracht war.
Im Jahr 2017 saß ich eines Abends vor meinem Fernsehgerät, um mir die Nachrichten anzuhören. Als die Ansagerin verkündete, dass in Berlin ein Mann mit einem Fahrrad unterwegs sei und Passanten im Vorbeifahren eine brennende Flüssigkeit ins Gesicht sprühe, holte mich meine Vergangenheit wieder ein, die ich doch längst aus meinem Gedächtnis gestrichen hatte – zumindest hatte ich das angenommen. Das war für mich der Auslöser, damit zu beginnen, das damals Erlebte zu Papier zu bringen. Wie gesagt, das Leben geht manchmal seltsame Wege! Du läufst und läufst, um das Ende deines Weges endlich zu erreichen, aber oftmals sind es Irrwege, die du beschreitest, weil du am Ende immer noch kein Licht für dich am Horizont entdecken konntest. Wenn du schon am Verzweifeln bist und die Absicht hast umzukehren und alles aufzugeben, was du besitzt, es dann aber doch nicht tust, wird auch für dich eines Tages am Ende des langen Tunnels ein Lichtstrahl leuchten. Dann weiß du, dass du endlich angekommen bist und es der richtige Weg war, auf dem du schon seit so langer Zeit gelaufen bist.
Die Bestimmung
Es war an einem Samstag im August, den ich mit meinen Freundinnen Katrin und Brigitte bei heißer Discomusik im Kasaleon, das sich in der Hasenheide in Berlin Neukölln befand, verbringen wollte. Wie immer war es gerammelt voll. Die Discokugel an der Decke drehte sich und verbreitete eine stimmungsvolle Atmosphäre. Auf der Tanzfläche war es sehr voll, sodass sich die vielen jungen Leute kaum bewegen konnten. Es war ein heißer Sommerabend und die Klimaanlage brachte an diesem Tag keine Erleichterung. Laut war es sowieso, sodass Schreien angesagt war, wenn man sich verständigen wollte. Alte und neue junge Leute trafen sich hier, die bester Stimmung waren. Man sagte „Hallo“ und „Schön, dich zu sehen“.
Meine Freundinnen hatten sehr schnell die passenden Tanzpartner gefunden und sie bewegten sich wie die Wilden bei Rock ’n’ Roll, Jazz und Twist. Ich stand etwas verloren da und mein Blick fiel auf einen jungen Mann, der offenbar gern auf Tuchfühlung tanzte. Ich dachte: Genau meine Art zu tanzen! Ich liebte nämlich unter anderem Tango und Blues. Das Tanzen wurde mir bereits in die Wiege gelegt oder ich habe die entsprechenden Gene von meiner Mutter geerbt. Jedenfalls konnte ich den Blick nicht von diesem jungen Mann wenden – er hatte mich in seinen Bann gezogen. Als er kurz zu mir herübersah, lächelte er. Nachdem der Tanz zu Ende war, kam er auf mich zu und fragte mich, ob ich tanzen wolle. „Ja, gerne sogar!“, antwortete ich. Er nahm mich in die Arme und wir tanzten eng zusammen, ohne dass es mir unangenehm war. Genau wie ich hatte er blondgelockte Haare und blaue Augen. Zum damaligen Zeitpunkt stand ich zwar eher auf Männer mit dunklem Haar und braunen Augen, aber hier passte es. Nach dem Tanz lud er mich auf einen Drink an die Bar ein und fragte mich, ob wir uns duzen wollten. Ich hatte nichts dagegen und stimmte ihm zu. Er reichte mir seine Hand und sagte: „Ich heiße Rudolf.“ Daraufhin nannte ich ihm meinen Namen.
„Doris – was für ein schöner Name!“, war Rudolfs Meinung. „Darauf müssen wir anstoßen. Was darf ich dir bestellen: Danziger Goldwasser, Escorial Grün oder lieber etwas anderes?“ Er sah mich fragend an.
„Weißt du, Rudolf, eigentlich trinke ich gar keinen Alkohol.“
„Ach, wirklich?“ Er sah mich ungläubig an.
Ich dachte, einer könne nicht schaden, und gab mir einen Ruck, zumal ich nicht als Memme dastehen wollte. So entschied ich mich für Danziger Goldwasser – ein Gewürzlikör, in dem etwas Goldenes schwamm, was faszinierend aussah. Rudolf bestellte bei der Dame hinter der Bar zwei Gläser Danziger Goldwasser und für sich ein neues Bier. Während wir auf die Getränke warteten, rauchten wir genüsslich eine Zigarette. Wenig später stießen wir an und ich nahm einen Schluck, der in einem Hustenanfall endete. Rudolf lachte und bestellte ein Glas Wasser für mich. Wir suchten uns ein gemütliches Plätzchen abseits vom Getümmel, wo wir uns ungestört unterhalten konnten. Zuerst sprachen wir über belanglose Dinge, zum Beispiel über seine Arbeit. Er sagte, er hätte Schreiner gelernt und arbeite derzeit bei der Fischfirma Loseid als Kraftfahrer. Aber unsere Themen wurden immer persönlicher und gingen dann doch sehr in die Tiefe. Jeder von uns hatte ja in seiner Kindheit und als Jugendlicher so einiges durchmachen müssen. Rudolf offenbarte mir, was er im Alter von sechs Jahren im Krieg erlebt hatte. Seine Mutter und zwei seiner Geschwister waren bei einem Bombenangriff ums Leben gekommen. Er erzählte es mir in etwa wie folgt: „Normalerweise sind wir immer in einen der Luftschutzbunker in Berlin gegangen, wenn es Fliegeralarm gab. Mutter sagte: ‚Heute gehen wir in den Keller, und wenn sie Bomben abfeuern, werden sie bestimmt nicht auf unser kleines Haus zielen, sondern auf die großen, die daneben stehen.‘ Meine Mutter, meine Schwester Gerda und zwei weitere meiner Schwestern gingen daraufhin in den Keller, in dem wir uns sicher fühlten. Als dann die Bomben vom Himmel fielen, war es, als hätten sie sich ausgerechnet unser Haus ausgesucht. Berge von Steinen und Balken stürzten über uns zusammen und es brannte lichterloh. Wir hörten unsere Geschwister schreien. Meine Mutter wurde von einem Balken aufgespießt und auch eine meiner Schwestern war tot. Wenn wir nach oben schauten, sahen wir nur ein großes Loch, durch das der Himmel zu sehen war. Meine große Schwester Gerda war am Bein verletzt worden. Gemeinsam krabbelten wir die Schuttberge hinauf und krochen durch das Loch ins Freie. Das Haus brannte lichterloh und ich rannte hinein, weil ja noch eine meiner Schwestern in den Trümmern war. Ich konnte sie mit meinen sechs Jahren Gott sei Dank retten. Aber sie machte sich von meiner Hand los und sagte: ‚Wo Mutter ist, will ich auch sein!‘ Also rannte sie zurück ins Haus und verbrannte. Von meiner Mutter hat man später nur noch einen Schuh gefunden. Mein großer Bruder Fredi war im Krieg und unser Vater bei der Arbeit. Die anderen Geschwister waren in Sicherheit, wahrscheinlich in einem der Bunker, die es in Berlin gab. Die Tragödie konnte nicht schlimmer sein, als mein Vater nach Hause kam und vom Tod seiner Lieben erfuhr. Für ihn und meine anderen Geschwister brach eine Welt zusammen. Mein Vater starb einige Zeit später im Krankenhaus Friedrichshain an der Ruhr. Gerda hatte ihn mit dem Handwagen dort hingebracht. Keiner aus der Familie hat ihn jemals im Krankenhaus besucht und ich wusste später auch nicht, wo man ihn begraben hatte. Die Zeit danach verbrachte ich bei Pflegeeltern, die der Familie bekannt waren. Sie lebten am Schlesischen Bahnhof, wo es zur damaligen Zeitpunkt viele Laubenkolonien gab. Das Jugendamt setzte sich mit der Familie in Verbindung. Die wiederum erklärte sich bereit, mich aufzunehmen. Mir war es recht, da ich die Familie ja kannte und auf keinen Fall in ein Heim wollte. Meinen großen Geschwister war es wohl egal, da sie alle ihr eigenes Leben führten und viel älter waren als ich. Auch für sie war es nach dem Krieg nicht so einfach, denn unsere Familie