Hanna Molden

Der Jahrhundertelefant


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ein Brief.“

      „Von wem?“

      Kleine Pause. „Von einem Elefanten.“

      Ein Brief von einem Elefanten. Das muss der Fritz erst verdauen. Mit der Zeigefingerspitze an der Nasenspitze.

      „Von einem echten Elefanten? Von so einem wie der in Schönbrunn?“, fragt er schließlich.

      Der Vater nickt. „Aber dieser Elefant lebt nicht im Zoo von Schönbrunn, sondern im Budapester Zoo.“

      „Ist er weit weg, dieser Zoo?“

      „Eher schon. Er befindet sich in der Hauptstadt von Ungarn. Die heißt Budapest.“

      „Ist das weit weg, dieses Ungarn?“

      „Wie man’s nimmt. Es ist unser östliches Nachbarland.“

      „Und wieso kennst du den Elefanten?“

      „Als ich vor vielen Jahren in Budapest gelebt habe, bin ich oft in den Zoo gegangen. Dort habe ich ihn kennengelernt.“

      „Wie?“

      Wieder muss der Vater etwas nachdenken. Dann erst spricht er. Der Vater denkt immer nach, bevor er spricht. Drum ist Verlass auf das, was der Vater sagt.

      „Ich bin auf der Bank vor seinem Gehege gesessen und habe ihn betrachtet. Er stand auf dem sandigen Boden, trat von einem Fuß auf den anderen, schwenkte sacht seinen Rüssel und sah mich an. Direkt in die Augen hat er mir gesehen. ‚Ich komme aus Indien‘, hat er gesagt. ‚Und woher kommst du?‘ hat er mich gefragt. ‚Ich komme aus Wien …‘“

      Fritz hat mit offenem Mund zugehört, jetzt unterbricht er den Vater.

      „Der Elefant kann richtig reden?“, fragt er fast atemlos.

      „Aber sicher. Alle Wesen haben eine Sprache.“

      „Was für eine Sprache spricht er?“

      „Elefantisch.“

      „Und du kannst Elefantisch verstehen, Papa?“

      „Wenn man mit dem Herzen hört, kann man jede Sprache verstehen.“

      Das weiß der Bub. Von der Mama. Er zeigt auf die Papiere in der Rocktasche des Vaters. „Lies mir den Brief vor“, verlangt er, dann schnell noch „bitte, Papa“. Und setzt sich in seinem Bett in Vorlesezuhörpositur. An den Polster gelehnt, das Nachthemd bis über die Zehenspitzen gezogen, die Hände auf den Knien.

      Der Vater zögert. Er zieht die Papiere aus der Rocktasche, streicht sie glatt, sieht nachdenklich darauf, als hätte er Mühe, das Geschriebene zu entziffern.

      „Lies, Papa“, sagt Fritz erwartungsvoll, „was schreibt er?“

      „Hm“, macht der Vater, kramt in seiner Tasche, holt die Brille hervor und setzt sie – ziemlich umständlich, will es Fritz scheinen – auf die Nase. Schaut seinen Buben an, lächelt ein wenig, macht noch einmal „hm“ und beginnt zu lesen:

       Budapest, am 18. April 1930

       Mein lieber Freund Ernst!

       Viel Zeit ist vergangen, seit ich Dir das letzte Mal geschrieben habe. Ich hoffe, Du nimmst es mir nicht übel. Aber es ist nun einmal so, dass sich im hiesigen Elefantenhaus nicht sehr viel ereignet. Ich bin sein einziger Bewohner. Seit Du nicht mehr da bist, ist mir schrecklich fad.

       Viele Besucher kommen nach wie vor durch das prächtig-mächtige Tor des Zoos. Die meisten nehmen gleich Kurs auf das Elefantenhaus. Sie pflanzen sich vor der Begrenzung auf und starren mich an. Ich sage höflich ‚Grüß Gott‘, aber sie verstehen mich nicht. Manche lachen und rufen mir etwas zu, aber ich verstehe nicht, was sie sagen. Es ist, wie es ist: Der einzige des Elefantischen mächtige Mensch, dem ich jemals begegnet bin, bist Du. Vielleicht gibt es irgendwo auf der Welt noch einen anderen Menschen, der Elefantisch spricht. Aber hier im Zoo ist er noch nicht vorbeigekommen.

       Mein Alltag ist immer noch gleich. Pandit, mein kleiner Mahout, bringt mir meine Riesenration Heu, manchmal auch Karotten. Er spritzt mich mit dem Schlauch ab, vor allem die Ohren, das mag ich besonders. Aber das weißt Du ja alles. Dann gehe ich langsam ins Freie und warte, dass etwas geschieht. Nichts geschieht. Beziehungsweise: nichts geschah bis vor Kurzem.

       Denn unlängst haben sich Dinge ereignet, die darauf schließen lassen, dass ich Gesellschaft bekomme. Wieso ich das annehme? Nun, unsereins hat ja nichts anderes zu tun, als die Menschen zu beobachten. Da habe ich zuerst den Direktor mit zwei seiner Leute auf ungewohnte Weise im Elefantenhaus herumspazieren sehen. Sie haben die Wände vermessen. Bald darauf haben sie zwei neue Abteilungen neben der meinen eingerichtet. Was mich vermuten ließ, dass sie für Elefanten sein sollen, man wird mir schließlich keine Nashörner oder Giraffen als Hausgenossen einquartieren wollen.

       Zwei Abteilungen, zwei Elefanten, so ist es geplant. Es handelt sich um ein Tauschgeschäft zwischen dem Budapester und dem Stockholmer Zoo. Das weiß ich von Pandit, meinem kleinen Mahout. Der kommt ja im ganzen Zoo herum, er scheint sich auch mit dem Direktor gut zu verstehen, und von dem hat er das Folgende gehört: Wir haben hier in Budapest zu viele Löwen, die Stockholmer wiederum haben zu viele Elefanten. Also gehen drei unserer Löwen nach Stockholm, und zwei Elefanten aus Stockholm kommen demnächst hier an. Ich weiß nicht, was Stockholm ist. Ich nehme an, dass es sich nicht um einen Dschungel, sondern eher um eine Stadt wie Budapest handelt. Jedenfalls sei das Elefantenhaus groß genug für drei, hat der Direktor gemeint.

       Wenn Du Dich jetzt fragst, wie ich es erfahren habe? Der Pandit hat es mir weitererzählt. Und weißt Du, wie? Der kluge Bub hat mit einem Ast die ganze Geschichte in den Sand meines Geheges gezeichnet.

       Ich kann Dir nicht sagen, wie aufgeregt ich bin, mein lieber Ernst. Sobald die Neuen da sind, werde ich Dir darüber berichten. Für heute grüße ich Dich auf das Herzlichste.

       Dein treuer Freund, der Elefant Jakob

      Im Kinderzimmer ist es still. Fritz hat fast aufs Atmen vergessen. Er sitzt da und starrt mit kugelrunden Augen auf den Brief des Elefanten, den der Vater jetzt zusammenrollt und in seine Rocktasche steckt.

      „Gute Nacht, mein Feppchen“, sagt er, beugt sich zu seinem Buben und will ihn auf die Stirn küssen.

      Da kommt Leben in den Fritz. Wie der Blitz fasst er den Vater am Rockzipfel und hält ihn fest. „Also Jakob heißt er! Wir haben einen im Kindergarten, der heißt auch Jakob!“

      „Schau, schau“, sagt der Vater etwas zögerlich, lächelt und versucht seinen Rockzipfel zu befreien. Fritz indes hält fest, viel zu viele Fragen sind offen um diesen Elefantenfreund, der Vater kann jetzt nicht einfach gehen …

      „Papa … Papa, wie kann er denn schreiben, der Elefant? Er hat doch keine Finger.“

      Nachdenklich reibt der Vater seinen Nasenrücken. Räuspert sich ein wenig. Und sagt dann entschieden: „Das ist richtig. Der Elefant hat keine Finger. Deshalb hat er den Brief diktiert.“

      Der Fritz hält den väterlichen Rockzipfel immer noch fest umklammert. „Wem hat er diktiert? Wer versteht denn, was er sagt? Es kann doch niemand außer dir Elefantisch!“

      Jetzt löst der Vater sein Sakko aus der Bubenhand. Vorsichtig. Aber bestimmt. Damit ist er eine kleine Weile beschäftigt, in der er nicht antworten kann.

      „Papa????“

      „Nun“, sagt der Vater schließlich, „der Jakob hat einen entfernten Verwandten im Zoo … Das ist ein … ein Affe. Namens … Jaromir. Affen haben, wie du weißt, flinke Finger. Der Jaromir hat das Maschinschreiben erlernt. Ihm kann der Jakob, wenn es sich um Dringliches handelt, seine Briefe diktieren.“

      Der Vater