Resilienz ist nicht nur eine Frage der bereitgestellten Ressourcen.
Während der Wintersaison gab es an über 70 Tagen die Situation, dass Patient:innen aus Platzgründen auf den Krankenhausflur gleich neben dem interdisziplinären Notfallzentrum gelegt werden mussten. Gefühlt war das praktisch jeden Tag. Das Notfallteam hatte sich über die Jahre an diese Situation gewöhnt. Man empfand das „normal“. Man muss dazu sagen, dass es keine gute Idee ist, Kranke auf dem Flur zu deponieren. Das Behandlungsergebnis ist schlechter, es gibt mehr Komplikationen und die Mortalität ist höher5.
Das Ziel des neuen Chefarztes des Notfallzentrums war es, nie mehr eine/ n Patient:in im Flur zu platzieren. Zwei Jahre später war es soweit: Es war die erste Wintersaison ohne Patient:innen auf dem Flur. Wie hatte das Team das geschafft? Erstens haben sie es als Problem anerkannt und sich gemeinsam ein Ziel gesetzt: keine Patient:innen mehr auf den Fluren. In der Folge wurden Erzählungen durch Daten und Fakten ersetzt. Aufgrund der höheren Unternehmenstransparenz war es möglich, Kapazitäten und Prozesse am 85-igsten Perzentil auszurichten. Argumente wie: „Geht denn das, wenn drei Hubschrauber und drei Rettungsfahrzeuge gleichzeitig kommen?“ haben sich erübrigt. Das gab es in den letzten fünf Jahren nie und wird es auch in den kommenden fünf Jahren nicht geben. Durch die Ausrichtung am 85-igsten Perzentil wurde der Alltagsbetrieb robuster. Dadurch werden jetzt auch die Ausnahmesituationen viel besser bewältigt. Um die Resilienz der Organisation zu verbessern, müssen die Mitarbeitenden beginnen, sich mit Statistik und Fakten auseinander zu setzen. Anschließend geht es an die Prozesse. Sie wurden simuliert, getestet und das Ergebnis gemessen.
Eine wichtige Rolle spielte die Standardisierung der Zusammenarbeit im Team: der Normalbetrieb soll störungsfrei bewältigt werden und außergewöhnliche Situationen sollen besser antizipiert werden. Gleich zu Beginn ein Team bestehend aus einem/einer qualifizierten Ärzt:in und einer Pflegefachperson mit dem/der Patient:in zusammen zu bringen, hat die Prozesse beschleunigt und gleichzeitig die Patientenzufriedenheit verbessert. Dadurch wurde die Parallelisierung von Prozessen möglich: ärztliche Verordnung von Beginn weg, pflegerische Tätigkeiten anstelle von Triage und Administration und das alles in einem Arbeitsgang.
Am härtesten war es, die Praxis der Triage durch die Pflege in die neuen Standards zu integrieren. Das existierende Triage-Konzept hatte man erst vor wenigen Jahren eingeführt. Ein neuerlicher Wechsel war schwierig zu akzeptieren. Es war herausfordernd, die Pflege davon zu überzeugen und die eben gewonnene Autonomie dem Teamgedanken zu opfern.
Die kulturellen Barrieren erwiesen sich als der schwierigste Teil. Im Gesundheitswesen und wohl auch anderswo geht es bei Veränderungen immer gleich um die Frage: „Bedeutet das, ich hätte bisher schlecht gearbeitet?“ Selbst, wenn Mitarbeitende mit großem Engagement dabei sind, genügt das, was man bisher gemacht hat, oftmals nicht mehr. Man muss mit Daten argumentieren und auch mit Daten Verbesserungen begleiten. Organisationale Resilienz angewendet auf ein interdisziplinäres Notfallzentrum bedeutet: Egal zu welchem Zeitpunkt ein/eine Patient:in zu uns kommt und woran er/sie leidet, wir müssen ihm genau das geben, was er/sie jetzt braucht. Diesen einfachen Anspruch einzulösen, ist in der Umsetzung anspruchsvoll.
Abb. 2 Die 5% der besten und 5% der schlechtesten Krankenhäuser6
Das sind die kulturellen Unterschiede der 5% besten Spitäler und der 5% schlechtesten Spitäler in Bezug auf die Behandlungsergebnisse bei der Diagnose Herzinfarkt. Das ist eine sehr spannende Übersicht, und wir sehen hier Unterschiede im Mindset. Medizinische Qualität bedeutet im Alltag, dem/der Patient:in das geben zu können, was sie oder er jetzt braucht. Jene Teams, die sich mit der Realität konfrontieren und datenbasiert Verbesserungen begleiten, sind besser.
Wie erreichen wir organisationale Resilienz durch die Lean-Denkweise?
Organisationale Resilienz erreichen wir, indem wir:
1. Sinn vermitteln. Denn wie wollen wir erreichen, dass sich die Mitarbeitenden hinter uns scharen, wenn sie nicht einmal wissen, weshalb? Organisationen, die ihre Mission vor die kurzfristigen finanziellen Ziele stellen, haben es in Krisenzeiten einfacher. Diese Sicht passt hervorragend zum ersten Lean-Prinzip (s. Kap. 4). PDO („purpose driven organizations“) haben erwiesenermaßen eine höhere Anpassungs- und Widerstandsfähigkeit. Mitarbeitenden zu erklären, weshalb wir gewisse Dinge auf eine bestimmte Art und Weise tun müssen, gehört zu den Grundaufgaben guter Führung. Mutig führen bedeutet oftmals, etwas komplett anders zu machen, als man es bisher gemacht hat, ungeachtet der bisher verfolgten Strategie oder der Geschichte der Organisation. In den meisten Fällen bedeutet das, kurzfristig Nachteile in Kauf zu nehmen, um zu erreichen, was notwendig ist.
2. Einen robusten Alltagsbetrieb anstreben. Wenn uns der Alltag bereits überfordert, wie können wir dann eine Krise bewältigen? Das kriegt man hin mit Lean. Zur Erinnerung: Lean ist das Betriebssystem einer modernen Organisation. Das ist die Basis. Viele Führungskräfte in Krankenhäusern schwadronieren von Visionen, Innovationen und Digitalisierung – und dabei läuft der eigene Betrieb alles andere als stabil. Wir erweisen den Mitarbeitenden in Gesundheitsorganisationen einen großen Dienst, wenn wir stabile Prozesse installieren, die im Alltag störungsfrei laufen. Patient:innen bringen ausreichend Variabilität ins System. Da und dort ist auch etwas Reserve erforderlich, um Schwankungen aufzufangen. Wer nicht seine ganze Energie in Feuerwehrübungen verschwendet, kann sich diese Reserve leisten. Die Prozessprinzipien von Lean, ursprünglich vom Automobilhersteller Toyota eingeführt und erprobt, schaffen Stabilität: Das fünfte Toyota-Prinzip postuliert, dass es erheblich zur Robustheit des Alltagsbetriebs beiträgt, wenn man etwas beim ersten Mal richtig macht. Fließende Prozesse vermeiden Verschwendung und helfen, Fehler und Stress zu vermeiden. Sie bringen Probleme an die Oberfläche, die durch die Kultur der kontinuierlichen Verbesserung schnell gelöst werden können. Ausgeglichene Prozesse gemäß dem vierten Toyota-Prinzip bieten eine Basis für eine resiliente Zusammenarbeit.
3. Das Alltagsgeschäft in der Tiefe gut zu verstehen, ist die Grundlage jeglicher Problemlösungen. Nur so können wir angemessen reagieren, wenn etwas schiefläuft. Ein Tagesmanagement nach Lean einzuführen, schafft klare Kommunikationswege und sorgt dafür, dass Probleme nicht in der mittleren Führungsebene stecken bleiben. Wie können wir wissen, wo wir stehen, wenn wir nicht jeden Tag mit unseren Mitarbeitenden darüber sprechen? Feedback ist zentral, um organisationales Lernen voran zu bringen. Dazu gehört auch, vor Ort zu gehen und zu schauen, wie die Dinge wirklich sind. Wenn man als Führungsperson etwas nicht versteht, kann man es sich erklären lassen. Die Mitarbeitenden machen das gern, solange man ihnen mit Respekt begegnet.
4. Die Mitarbeitenden mit ihren Problemen nicht allein zu lassen und sie zu ermuntern, Probleme selbständig zu lösen, liest sich wie eine Selbstverständlichkeit. Probleme ohne Schuldzuweisungen zu benennen und möglichst umgehend Unterstützung anzubieten, schafft Vertrauen, ohne das es keine gute Führung gibt. Wie können wir widerstandsfähiger werden, wenn uns jeden Tag dieselben Probleme daran hindern, einen guten Job zu machen? Viele Krankenhausmanager:innen haben alle Hände voll zu tun, die Probleme aus dem Alltagsbetrieb zu bewältigen und finden kaum Zeit, sich um die wichtigen Dinge zu kümmern.
5. Sich an den Besten messen. Wie sollen wir Mitarbeitenden und Führungspersonen klarmachen, dass es eine Verbesserung braucht, wenn wir es nicht objektiv beweisen können? Oder wie schützen wir uns vor zu kurz gedachten Interpretationen, wenn wir uns nicht die Zeit nehmen, gründlich hinzuschauen? Erfolgreiche Organisationen sind selbstreflexiv, das heisst sie haben keine Scheuklappen, über sich selbst nachzudenken und ihre Schwächen zu benennen. Objektive Daten sind eine große Hilfe in Verbesserungsprozessen. Es geht nicht darum, alles Mögliche zu messen, sondern dort anzusetzen, wo man den größten Hebel hat.
6. Sicherstellen, dass alle mit der gleichen Basis arbeiten (nach Standards) und diese Standards gezielt weiterentwickeln. Wie sollen wir uns verbessern, wenn wir nicht einmal wissen, wie gearbeitet wird? Zur digitalen Transformation gelangt man nur, wenn Standards