schönes Gefühl. Leise Wonne im Übergang: anderswohin. Dann rebelliert der Rest des Lebenswillens. Plötzlich singt man laut ins leere Haus, in dem die Vergangenheit stillsteht:
»Heidewitzka, Herr Kapitän« — oder noch jugendlich frecher: »Heidewitzka, mein Mann ist krank, er liegt besoffen unterm Kleiderschrank.«7 Man erschrickt vor sich selbst. Wie sagt Goethe: »Das Alter macht nicht kindisch, wie man spricht. Es findet uns nur noch als wahre Kinder.«8 So oder so ähnlich. Ich kann es nicht mehr nachschlagen. Man kann nur noch in seinem Kopf lesen, Bücher gehen nicht mehr. Adieu Zitatenhort von vier Generationen. Google weiß es wohl, aber selbst da ist jetzt alles im Nebel.
19. Oktober 2020
Die Nachtruhe
Die Nachtruhe hat den Augen nichts gebracht, eher den Nebel verdichtet. Das Üben hier wird schwer, ich muss die Buchstaben auf der Tastatur schon suchen. Es handle sich um Netzhautablösung. So steht es jetzt im Bericht. Gottlob habe ich morgen Termin bei Frau Schmidt. Ich soll den Frankfurter Bericht mitnehmen. Hoffentlich finde ich ihn.
Die tausend Schritte vor dem Haus gehen. Meine rumänische Lebenshilfe, Krankenschwester oben in der Rehaklinik, ist krank. Wer hilft mir?
Ich jammere mich nicht ins Unbekannte. Ein Dutzend Mal am Tag auch die Namen meiner Toten und noch lebenden Nächsten. So belebt man sich künstlich den leeren Raum um sich, übt wenigstens die Stimme. Mein Sprechen wird immer holpriger. Man schweigt fast den ganzen Tag. Manchmal entdeckt man sich in Selbstgesprächen. Man kommt sich komisch vor, wenn man sich entdeckt. Es bleibt das Telefon als Übungsgerät, man ruft die sechs, sieben Menschen an, die einem noch nah sind, zu Gesprächen, die mit dem immer schon fünfmal Gesagten enden und in guten Wünschen. Gestapelt füllten sie schon das halbe Haus. Es ist also noch etwas Platz.
Der Anteil der Eisware an meiner Ernährung wächst, das Kochen mindert die Lust wegen dauernder Wiederholung von Bratwurst mit Kartoffeln und Salat.
Ich war für mich interessiert, nicht an mir.
Ich denke, meist samstagabends, wenn ich mich langlege: wieder eine Woche weg, eine Woche näher am Exitus, den man oft will und oft nicht. Letzte Woche noch. Aber nicht jetzt. Jetzt nicht! Die Gefühle lösen einander ab. Morgens in sich gespalten, wünscht man sich das Ende und greift noch nach dem Leben. Zweimal und oft am selben Tag.
Ich wollte von der Zauberbrille erzählen, die man mir zu verpassen sich anschickt …
20. Oktober 2020
Es ist nun sicher: Der Umbau beginnt. Ich komme von der wunderbaren Augenärztin zurück, der zwei hochrenommierte Fachkollegen ihre Diagnose bestätigt haben. Richte dich ein in dem beschädigten Zustand. Trockene Makula, keine Hoffnung für das linke Auge. Dreimal die gleiche Diagnose, das muss reichen. Es hilft weiter nur die Brille mit der Kamera, die die Texte, die ich lesen will, fotografiert, in Sprache umsetzt und mündlich berichtet, was sie liest, und ich das hören kann, was ich mit den Fingern benannt habe. »Sie müssen das tüchtig üben.« Üben und sogar tüchtig. Noch ein Apparat und einer ganz neuer Art. Blinde Studenten sollen damit sogar das Examen geschafft haben.
Es fing vor fast 50 Jahren an. Statt der Zähne: Implantat. Dann die Brillen, drei Stück, für Ferne, Nähe und den Computer. Dann musste das Herz gestützt werden. Zwei Stents und ein Herzschrittmacher. Jetzt also dieser Apparat. Sehe hörend, wohin du nicht siehst. Denn man muss den Kopf etwas schräg halten, mit dem rechten Auge knapp am zu lesenden Text vorbeigucken, damit die Kamera, die dein Auge ist, lesen kann. Werde ich die Geduld haben, ich kämpfe seit Jahren schon mit den Einstellungen auf dem Computer. Das Angebot ist reichlich, der Irrtum unausweichlich. Man kann sich schon einen künftigen Menschen vorstellen, der aus lauter Ersatzteilen besteht. Mit eigenen Olympischen Spielen. Mich schauderte interessiert; wenn ich die Anfänge bei den Paralympics noch sehen könnte. Die Brille, die mir zuwächst, ist nichts fürs Fernsehen. Es bleibt mir eine akustische Erregungsstation. Meine Zukunft wird sichtbar im Verschwinden des Sichtbaren.
Eben brachte die Post das neue Buch von Bernd Feuchtner über »Die Oper des 20. Jahrhunderts in 100 Meisterwerken« – munter, freundlich und höchste Kompetenz bewahrend. 1992 habe ich ihn als Musikkritiker an den Tagesspiegel geholt. Da begann seine Karriere. Ein zarter, freundlicher, gescheiter, empfindsamer Mann. Das wollte, sollte, könnte ich lesen. Ich habe großen Nachholbedarf in Sachen Oper. Aber mit 96 bleibt das Meiste beim Wollen. Es gibt eine merkwürdige Lust zu denken: »Ich könnte« – auch wenn man nicht kann. Möglichkeiten sind der Saft der Hoffnung. Und die Hoffnung eine andere Art des Atmens.
20. Oktober 2020
Die Kerr-Ausgabe
Man lebt in Zusammenhängen, die man erst später begreift. Ich habe von Alfred Kerr nicht das Kritikenschreiben erlernt. Ich kann auch aus vielen seiner Kritiken die Aufführungen nicht mehr erkennen, auf die er sich bezieht. Mich traf seine Sprache, die bewusste Form von Kritik, das Absolute, selbständige Gegenüber, diese sich selbst setzende Kompetenz, die sich in hoher, leidenschaftlicher Rationalität bestätigte, die Sinnliches auf den Begriff brachte. Die Kunst der Verkürzung, die Zuspitzung in der Pointe, die einen traf wie ein Blitz. Also das Besondere, Einmalige, das niemand anderes konnte. Die Sprache, die sich als Sprache, als der geschärfte Gedanke zur Wirkung brachte und in den Theaterkritiken die äußerste Konzentration vorwies als Schärfe eines lebendigen, souveränen Intellekts.
Noch etwas anderes. In der Beschäftigung mit der Literatur des deutschen Exils, mit der Wiederherstellung und der Abbildung der Literatur, fühlte ich eine Zäsur, sah ich die Lücke. Die Lücke hieß Kerr. Er war nicht vergessen, mit seinen Kritiken in der Erinnerung auch richtig positioniert, aber die Breite seiner Wirkung war nicht mehr präsent. Die Weite seiner Interessen, seiner Themen, seiner Bedeutung war neu zu erschließen.
Wir brauchten die Neubesichtigung von Kerr, seiner Arbeit, seiner Person, seiner tragischen Geschichte. Eine neue Ausgabe sollte das alles sichtbar machen. Die Suche begann. Wer will das? Die kühne Gerda, die den blauen Mantel immer so theatralisch über ihre Schulter warf, in der Hertziana in Rom geschult, im Verlag S. Fischer bekannt geworden, hatte in Zürich eine eigene Literarische Agentur begründet. Zu ihr brachte ich Kerr: »Such einen Verlag!« Von vielen Gängen kam sie mit einem »Nein« zurück. Rowohlt, Suhrkamp, Hanser waren dabei. Kerr? In Berlin hatten sie unvermutet keine Bedenken. Es war noch vier Jahre vor der Wende, in West-Berlin plante man noch für den Westen. Der Tagesspiegel hatte eine Stiftung, die Geld hatte. Aus dem Geld sollte ein Verlag werden, Argon hieß er. Berlin, Zwanziger Jahre. Dahin, in diese Nische kam Kerr. Es war ein Anfang. Es war ein Glück mit Enttäuschungen, Zerwürfnissen und dem Schrumpfen meiner Hochachtung vor deutschen Professoren. Herr Poll war schon in einem vorbereitenden Gespräch mit einem Professor für eine Kerr-Ausgabe.9 Wir teilten die Arbeit. Als die ersten Bände erschienen, waren die neuen Bände voll von einst schon gedruckten Texten. Die Anmerkungen hatten etwa diese Qualität: »Goethe, Wolfgang, deutscher Dichter, lebte in Weimar«, so ungefähr. Das war der Anfang aller Trennungen. Die gehören in die Verlagsgeschichte. Ich wollte nur berichten, dass es doch schwierig war, wieder darzulegen, dass Kerr mehr war als ein Erinnerungswert. Die Ausgabe der Kerr-Schriften wuchs auf acht Bände. Doch schließlich bei S. Fischer. Weil Argon in der Wende Pleite ging und im Fischernetz landete. (Ich musste Reich-Ranicki zu Hilfe rufen.) Kerr, der S. Fischers Gründer einst tüchtig genährt hatte, hatte eine bösartige, auch lyrische Grummelei mit Thomas Mann. Mann war der neue Hausheilige bei S. Fischer. Aber es klappte.
Ich sehe mit Wehmut auf die acht Bände drüben im Regal. Die Kerr-Geschichte ist damit nicht zu Ende.10 Ich berichte, wenn ich wieder eine Erfrischung brauche.
21. Oktober 2020
An wie vielen der herrlichen Tage dieses rosenblühenden Sommers hat das Schwinden der Hoffnung