Günther Rühle

Ein alter Mann wird älter


Скачать книгу

aus. Ich hatte Zeit bis Viertel nach sieben. Da musste das Frühstück fertig sein, die Frau musste zur Schule. Dann war noch mal frei für zwei Stunden. Um zehn dann ab in die Redaktion. Warum fällt mir das jetzt ein? Ich führte mich eben vorsichtig die Treppe hinab, sie ist breitstufig, bequem zu gehen – man grübelt immer, ob man da stürzt und mit welchen Folgen –, um zu schreiben, wie dieser dunkle Morgen die Schlafsucht verlängert. Und da setzt man sich hin und schreibt was ganz anderes. Der erste Satz ist wie ein Startschuss. Warum so anders auf einmal. Weckt die Treppe, löst sie die Glieder? Ich bin seit Tagen schwanger vom Verlangen, was anderes zu schreiben, wo man keine Studien braucht, die Augen nur für die Tasten wach sind. Das Verlangen nach aktiv sinnvoller Arbeit plagt einen also bis ins hohe Alter. Da fällt mir der Anfangsanfang von allem ein. Das ist überraschend neu, was da kommt. Viele haben gerufen, aber ich habe mich immer gewehrt gegen eine Biographie. Ich war mir nie interessant, oder nur soweit, mir neue Aufgaben und Themen zu suchen, um mich am Schreiben zu erkennen. Jetzt, wo es nichts mehr zu tun gibt, die eigene forschende Arbeit aufgegeben werden muss, drängt sich Erinnerbares wieder in den Kopf.

      Also morgens halb fünf. Ich war fünf Jahre bei der Zeitung, meine Theaterkritiken wurden häufiger, eines Tages kam ein Anruf von Rudolf Hirsch, damals Direktor vom S. Fischer Verlag. Hirsch war ein hochgebildeter, zarter, leiser Mensch, schwärmend hingegeben an Hofmannsthal.11 Er wollte von mir ein Panorama des modernen Theaters, eine Sammlung von und für Theatrasten. Ich wollte nicht. Theater hat für mich mit Theorien nichts zu tun. Man kann im Methodischen streiten. Es gibt keine Theorie des Theaters, außer was es ist: Spiel. In den höchsten Momenten ein Schöpfungsakt. Die Zuschauerlust, Geber und Empfänger. Mit Theorien kommt man nicht an die Lebenskraft des Theaters. Ich machte Hirsch einen anderen Vorschlag. Ein Buch zu machen über das Theater der Zwanziger Jahre. Man sagte damals noch »Goldene Zwanziger Jahre«. Die waren nicht golden, glänzten nur manchmal so. Hirsch war ein Kind jener Zeit. In diesen zwanziger Jahren zerbrach das Jahrtausend. Die alten politischen Reiche, die Kirchenmächte, Glaubenswelten waren zerbrochen, man suchte Bauteile für eine neue Welt. Ich war mittendrin in diese Welt gekommen, ich schrieb jetzt Kritiken in der wichtigsten Zeitung, ich musste wissen, was geschah, wie man reagierte, wie man schrieb. Ich stürzte mich in diese Arbeit. Das daraus entstandene Buch ist ein Denkmal einer kurzen Epoche geworden. Damals setzte sich in mir fest, was mich dann begleitet hat bis heute, der Zusammenhang von Theater und Zeit.12 Egal wie es ist, es entsteht aus der Zeit für die Zeit. Deswegen morgens halb fünf. Wenn ich jetzt um halb fünf wach werde, zähle ich die Stunden, die ich noch schlafen kann. Und nach dem Frühstück kommt noch der Morgenschlaf. Lebensmüdigkeit ist auch eine körperliche Wahrheit.

       26. Oktober 2020

      Ich war im Beruf immer im Betrieb, Zeitungsmenschen kennen kein ruhiges Wochenende. Veranstaltungen, Termine, Sonntagsdienst. Ich war immer froh, wenn ich mal allein war. Das Alleinsein jetzt ist eine Plage. Sind allein und einsam identisch? Bin ich einsam und / oder allein? Ich werde dem nachspüren, aber nur keine Grübelei. Grübeln zerfrisst einen. Ich lechze nach Aufgaben, aber wo gibt es die noch. Mir fehlt meine Arbeit jeden Tag mehr. Mein Text der Theatergeschichte, den ich abgeben musste, hängt noch im Computer. Ich musste heute zum sechsten Mal aufgeben, ihn zu lesen. Die Vergrößerung auf 28 Punkt hält man nicht durch. Das Erkennen strapaziert Augen und Hirn. Ich muss selbst die Versuche aufgeben, den Buchstabensalat, den ich hier im Drauflosbenutzen der Tasten anrichte, zu kontrollieren. Ich spür jetzt auch schon eine sich einschleichende, eine wachsende Scheu, einige der fertigen Stücke noch mal zu lesen. Die Selbstkritik ist erbarmungslos, sie verlässt einen nicht, und vorgelesen werden meine Sätze sicher andere, als sie geschrieben sind. Ich nannte sie abgekürzt TGIII. Ich möchte jetzt rufen, laut, dass es hallt: »TGIII, komm zurück.« Auch das Begriffene schmerzt. Die Sache ist in guten Händen. Ich bin auf der Suche nach Zufriedenheit und Heiterkeit. Vielleicht finde ich morgens etwas, was den Tag leicht macht.

       27. Oktober 2020

      Jetzt bin ich entsetzt, die besseren Gefühle sind dem Erschrecken gewichen. Ich bin an meine bisher geschriebenen Texte geraten, mache Stichproben, ob man das so machen kann, hoffte auf Bestätigung. Ich habe versucht zu lesen und viele Sätze und Wörter nicht mehr verstanden. Die Augen dicht vor dem Bildschirm, um noch was zu erkennen, und ich erkannte, dass das Drauflosschreiben manche Texte zum Gestrüpp macht. Cora war heute Morgen da und sagte, sie nimmt die Ausdrucke mit und korrigiert oder schreibt neu. Ich kann ihr das gar nicht zumuten. Ich bin auf mich selbst zurückgeworfen. Der Verwirrer flotter Sätze bin ich. Das heißt: Mein lebenslang geübtes Zweifingersystem, das in den gut siebzig Jahren zigtausend Sätze von mindestens 900 Kilometern Länge hingetippt hat, ist nicht mehr treffsicher. Selbst wenn die Finger nicht zittern, ich hau daneben. Statt einem G ein F oder ein H oder V oder ein T. Jeder Buchstabe hat mindestens zwei, meistens vier Nachbarn. Ich werde ein Hersteller von Wortsalat.

       28. Oktober 2020

      Vorgestern musste ich doch den Sohn von den lieben Nachbarn zu Hilfe holen. Er ist wohl Ende 30, fährt gern Motorrad, ist Lehrer in der Fachschule, Optiker, aber mit Computer-Kenntnissen. Gestern kam er, ordnete und führte mehrere Dateien auf einen Stick. Der Lektor im Verlag wollte den Text von einem Band. Der kam gerade, als auch Dumitru mit seinem Sohn kam, der ist elf. Als der Optiklehrer das Problem probierend löste, stand Rares mit ruhigem Gesicht daneben. Er war nahe am Weinen, sagte seine Mutter tags darauf. Er hätte sich so gerne hilfreich gezeigt.

      Wenn ich zusammenzähle, arbeiten jetzt schon vier Generationen an dem Support, der sich mir jetzt immer schneller entzieht. Drei davon sind schon Nachwuchs. Zwei haben die Anfänge des Digitalen Zeitalters nicht mehr erreicht. Ich sitze bei den Hilfsaktionen staunend dabei und wundere mich, was sie draufhaben. Bewundere das Tempo ihrer tastendrückenden Hände, staune, was sie alles machen, und dass der Apparat all das kann, was sie aus ihm herausholen. Ich spüre, sie leben schon in einer anderen Welt, obwohl wir noch beieinander sind. Eins habe ich aber allein. Ich weiß noch, wie alles anfing. Vor gut 50 Jahren kam Kollege Held aus Silicon Valley in die Redaktion zurück und verkündete uns Ungläubigen die Verwandlung, die jetzt Wirklichkeit ist.

       28. Oktober 2020

      Nun ist schon Ende Oktober und ich lebe noch immer. Sogar klarer als im August. Damals war jede Stunde zu viel, ich dachte nur an Schlussmachen. Die Frage, wie ich das mache, hat die Gedanken beherrscht, da ich keine letalen Tabletten bekam. Da nach dem Karlsruher Spruch zur Sterbehilfe keine Hilfe zu erwarten war, kam ich am Ende auf elf Methoden der Selbsthilfe: Mit Stürzen, Stichen, Schnitten, Stricken, Ertränken, den Gashahn vom Grill, Ersticken, Verhungern, und die Überdosis Blutdrucksenker. (Ob das ging?) Es gab mehr Möglichkeiten, als man dachte. Ich musste oft an Adalbert Stifter13 denken, in dessen beruhigte Welt auch der Schnitter eintrat, der er dann selbst war.

      Der im August selbstgesetzte Termin ist vorbei, ich gehe jetzt wieder stockgestützt, freilich durchs Dorf nicht mehr durch, sondern vorm Haus, 200 Schritte nach links, dann nach rechts. Es geht gut, erfrischende Schritte. Gestern war Cora da. Sie schaut einem zuerst in die Augen, ob ihr Weiß noch oder wieder klar ist. Bessern kann sie sie nicht, aber sie zog meine Hände auf ihre Brüste. Sie hat das gern. Ich denke dann immer wieder an die lebenstapfere Marieluise Fleißer. Der junge Lion Feuchtwanger war ihr Liebhaber, damals, Anfang der zwanziger Jahre, bevor sie in Brechts Hände fiel. 1970 übernahm ich auf Unselds Ruf die Ausgabe der Fleißerschen Werke14 – die Fleißer wurde damals auch mit Fassbinder, Kroetz und Martin Sperr in Ingolstadt zusammen präsentiert – und wie das Gespräch so ging, fragte der Brecht-Verleger Unseld in seiner stets tätigen Neugier, wie Brecht denn so im Bett gewesen wäre. Die Antwort war kurz, also sachlich. Aber dabei erzählte sie, dass der liebe Lion immer von ihrem jungfräulichen Busen als »dem schönsten in Mitteleuropa« gesprochen, ja geschwärmt habe.

      Ich merke jetzt, es ist beim Schreiben wie im Leben: die erotischen Sachen kommen einem immer dazwischen. Ich wollte eigentlich sagen, ich bin unverhofft