Ernst Langthaler

Agro-Food Studies


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– und damit auch gegen den Versuch einer Übersetzung – entschieden: Zunächst ist es tatsächlich schwer, Agro-Food Studies ins Deutsche zu übertragen: Allein food beinhaltet Aspekte von ‚Nahrung‘, ‚Lebensmittel‘ und ‚Essen‘, und auch agro bezeichnet mehr als ‚Landwirtschaft‘. Wenn wir das Buch ‚Agrarund Ernährungsforschung‘ genannt hätten, dann wäre dies auch keine stimmige Übersetzung gewesen: Agro-Food Studies sind nicht einfach Forschungen, die sich mit Landwirtschaft und Ernährung bzw. dem Essen beschäftigen. Sie bezeichnen vielmehr eine spezifische Forschungsrichtung, die sich inter- und transdisziplinär versteht und die sich durch einen sozial- und kulturwissenschaftlichen Schwerpunkt, eine kritische Grundperspektive und die Verbindung von produktions- und konsumorientierten Sichtweisen charakterisieren lässt. Man könnte auch sagen, die Agro-Food Studies schließen eine Lücke in den überwiegend betriebswirtschaftlich, naturwissenschaftlich und technisch orientierten Forschungseinrichtungen und Studiengängen im Agrar- und Ernährungsbereich.

      Obwohl die Agro-Food Studies kein klar abgrenzbares Forschungsfeld bilden, bezeichnen sie dennoch einen im angloamerikanischen Sprachraum etablierten akademischen Diskussionszusammenhang. Dieser konstituiert sich zwar nicht als eigenständige Disziplin, ist aber über eine Reihe von wissenschaftlichen Vereinigungen, Konferenzformaten und Fachzeitschriften präsent. Die Agro-Food Studies haben sich bereits in den frühen 1980er Jahren formiert. Vor allem aus der Agrarsoziologie heraus gab es Impulse, den Blick vom landwirtschaftlichen Betrieb als zentralem Akteur der agrarischen Produktion auf die gesamte → Wertschöpfungskette zu erweitern: Das System von Lebensmittelproduktion, -verarbeitung, -handel und -konsum sowie politisch-institutioneller Steuerung sollte in die Betrachtung des ‚Agrarischen‘ integriert werden, vorwiegend mittels Anleihen aus der Politischen Ökonomie. Dies war aber nur ein erster Schritt, der innerhalb der Agro-Food-Debatten als einseitig produktionsorientiert kritisiert wurde. Dementsprechend wurde der Lebensmittelkonsum – so die Kritik – fast gänzlich als Funktion des Produktionssystems verstanden. Umgekehrt blieben die Praktiken des Essens und Kaufens, die Konsumkultur und die Wirkungsmacht des Konsums auf die Produktion weitgehend ausgeblendet (vgl. Lockie und Kitto 2000). In den 1990er Jahren setzte sich dann in den Agro-Food Studies zunehmend ein consumption turn durch (Goodman 2000; Goodman und DuPuis 2002), der einer Adaptierung kulturwissenschaftlicher Perspektiven in den Sozialwissenschaften (cultural turn) folgte. Demnach werden Produktion und Konsum von Lebensmitteln nicht mehr nur als Abfolge (z. B. als food chain vom Bauernhof bis zum Esstisch) behandelt und auch nicht mehr nur als Wechselwirkung, sondern es geht darum, die üblichen Trennlinien zwischen Produktions- und Konsumwelten aufzulösen. Hinzu kam mit einem material turn in den Sozialwissenschaften eine stärkere Fokussierung auf die physisch-materielle Welt der Lebensmittelproduktion und der Ernährung und eine stärkere Gewichtung von Natur, Umwelt, Leben und Körperlichkeit in den Agro-Food Studies (Goodman 1999).

      Die Übergänge zwischen Agro-Food Studies (auch synonym: Agri-Food Studies) und Food Studies sind fließend, auch wenn Erstere mehr produktionsorientiert und Letztere mehr konsumorientiert vorgehen. Während die Agro-Food Studies stärker von Fächern wie der Agrarökonomie, -soziologie, -geografie oder -geschichte beeinflusst wurden, sind die Food Studies mehr von Disziplinen wie der Kulturanthropologie, Konsumsoziologie, Konsumgeschichte oder Konsumgeografie geprägt. Nach dem von uns hier vertretenen Verständnis schließen Agro-Food Studies aber immer auch die Food Studies mit ein. Eine vergleichbare Bezeichnung für ein wissenschaftliches Themengebiet, welches gerade die Verbindungen zwischen dem Produktions- und dem Konsumkontext des Essens in den Blick nimmt bzw. das quer zu den konventionellen disziplinären Grenzen liegt, fehlt im deutschsprachigen Raum.

      Mit dem vorliegenden Buch möchten wir einen Beitrag zur Konsolidierung und Zusammenführung von Beiträgen der Agro-Food Studies im deutschen Sprachraum leisten. Die Rezeption der überwiegend englischsprachigen Basisliteratur wollen wir mit der Forschung im deutschsprachigen Raum verbinden und auch unsere eigenen Interpretationen und Ideen einfließen lassen. Wir möchten den Blick auch deshalb stärker auf den deutschsprachigen Raum lenken, weil sich die englischsprachige Agro-Food-Studies-Literatur vor allem auf die spezifische Situation der Lebensmittelversorgung und Ernährung in Nordamerika und dem Vereinigten Königreich bezieht. Trotz eines Schwerpunkts der Beispiele in unserem Buch auf dem Umfeld der deutschsprachigen Leserinnen und Leser war es uns wichtig, eine eurozentrische Perspektive zu vermeiden; vielmehr möchten wir verschiedenen Blickwinkeln und Themen, insbesondere auch des → Globalen Südens, gebührend Beachtung schenken.

      Die Wortkombination Agro-Food steht für eine Dichotomie, also eine Zweiteilung zwischen Agro und Food, und damit auch für einen Gegensatz zwischen Produktion und Konsum. Dass es uns mit diesem Buch um eine Auflösung dieser Trennung geht, ist kein Widerspruch: Wir machen uns zunächst mit dichotomen Denkmustern und deren Wirkmächtigkeit in unserer üblichen Form der Generierung und der Vermittlung von Wissen vertraut, gerade um uns dann von diesen Mustern zu lösen, sie infrage zu stellen und Zusammenhänge anders zu denken. Im Kontext der Agro-Food Studies begegnen uns explizit und implizit zahlreiche dichotome Denkmuster. Wir haben das Buch um acht solcher Wortpaare herum konzipiert: Tradition und Moderne, → Globalisierung und → Regionalisierung, Gesellschaft und Umwelt, Natur und Technik, Kopf und Bauch, Überfluss und Mangel, Verbindendes und Trennendes sowie Stabilität und Veränderung. Auf ein Kapitel zur Dichotomie zwischen Produktion und Konsum wurde bewusst verzichtet, da dieser Gegensatz – oder besser: diese Verbindung – ohnehin eine Grundperspektive des gesamten Buches bildet. Andere dichotome Wortpaare wie z. B. Stadt und Land oder Natur und Kultur wurden zwar nicht als Kapitelüberschrift ausgewählt, spielen aber in dem Buch dennoch eine wichtige Rolle. Oft ist dabei ein Begriff gar nicht ohne die Abgrenzung vom Gegenbegriff denkbar (wie bei einer zeitlichen Abgrenzung von ‚traditionell‘ und ‚modern‘). Manche Begriffe ergeben nur in Abgrenzung zu einem anderen Sinn (z. B. ‚Umwelt‘ im Hinblick auf eine ‚Innenwelt‘ – in unserem Fall die ‚Gesellschaft‘). Andere Wortpaare beschreiben entgegengesetzte Phänomene (wie ‚zu viel‘ und ‚zu wenig‘). In jedem Fall zeigt sich bei all diesen Dichotomien, dass die vermeintliche Zweiteilung nur eine gedankliche Differenzierung ist und die Realität nur im ‚Ganzen‘ existiert. So lassen sich beispielsweise Phänomene der Globalisierung und der Regionalisierung als zwei Seiten derselben Medaille begreifen, und jegliche Technik beinhaltet Aspekte der Natur und Natürlichkeit, ohne die das Technische gar nicht möglich und denkbar wäre.

      Wie aber lassen sich solche Gegensätze auflösen oder überwinden, ohne sie zu reproduzieren? Erstens lässt sich dies durch eine kritische Distanz zu diesen dichotomen Denkfiguren in der Wissenschaft genauso wie im Alltag und in der öffentlichen Diskussion erreichen. Es geht darum, etablierte Sichtweisen zu reflektieren und zugleich andere Perspektiven aufzuzeigen. Agro-Food Studies verstehen sich als ein alternatives Projekt, das Gegenentwürfe zu einer von der Gesellschaft abgehobenen Agrar- und Ernährungswissenschaft bereitstellt.

      Zweitens arbeiten wir an der Überwindung von dichotomen Denkmustern durch Forschungsperspektiven, die einen integrativen Blick jenseits von reduktionistischen Ansätzen erlauben. Jedes Kapitel beleuchtet schwerpunktmäßig einen in den Agro-Food Studies häufig verwendeten Ansatz als Leitperspektive – als eine theoretische Brille, durch die wir bestimmte Phänomene unter einem bestimmten Blickwinkel betrachten können. Die Leitperspektiven lassen sich durch folgende Begriffe charakterisieren: → Nahrungsregime (Tradition und Moderne), Einbettung (→ embeddedness) (Globalisierung und Regionalisierung), → Sozialökologische Systeme (Gesellschaft und Umwelt), → Akteur-Netzwerk-Theorie (Natur und Technik), → Biopolitik (Kopf und Bauch), → Zugangsrechte (Überfluss und Mangel), → Ernährungsstil und → Landwirtschaftsstil (Verbindendes und Trennendes) sowie → transition theory (Stabilität und Veränderung).

      Drittens versuchen wir, Dichotomien durch eine konsequent interdisziplinäre Perspektive aufzulösen. Die hier vorgestellten Ansätze und Themen liegen quer zu konventionellen Disziplingrenzen und damit auch zu den üblichen Grenzen des wissenschaftlichen Denkens und Zuordnens. In den Agro-Food Studies werden Grenzen zwischen natur-, technik-, sozial- und kulturwissenschaftlichen Betrachtungsweisen aufgebrochen. Zwar liegt ein deutlicher Schwerpunkt auf sozialwissenschaftlichen Ansätzen, aber indem beispielsweise Phänomene der ‚Natur‘ oder der ‚Technik ‘ sozialwissenschaftlich und unter Berücksichtigung von Erkenntnissen aus Naturwissenschaften, Humanwissenschaften und Wirtschaftswissenschaften