Gottfried Willems

Geschichte der deutschen Literatur. Band 1


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leicht erliegen kann: das Bestreben, den Umfang überschaubar zu halten, darf nicht dazu führen, daß literaturgeschichtliche Entwicklungen, Autoren und Werke jeweils nur mit einigen wenigen allgemeinen Wendungen charakterisiert werden, die so weit über den Texten schweben, daß sie sich kaum für eine vertiefte Auseinandersetzung mit ihnen aktivieren lassen, zumal sich dabei leicht eine Tendenz zu Allgemeinplätzen durchsetzen kann, die, wo sie nicht überhaupt von nichtssagender Allgemeinheit bleiben, vielfach fragwürdig gewordene Bestände der älteren Literaturgeschichtsschreibung transportieren. Denn daß sich die Forschung in so hohem Maße spezialisiert und dabei immer wieder die großen literaturgeschichtlichen Zusammenhänge beiseite gesetzt hat, läßt den, der denn doch einmal auf sie zu sprechen kommt, nur allzu leicht auf Konstrukte der älteren Literaturgeschichtsschreibung zurückgreifen, die zu gängiger Münze geworden sind, die im Licht der neueren Forschung jedoch kaum mehr standhalten. Das letzte, was man einem Studierenden antun dürfte, der nach einer Einführung in den Entwicklungszusammenhang der deutschen Literatur fragt, wäre aber wohl, ihn in ein Beinhaus ausrangierter Allgemeinplätze zu führen.

      So soll hier ein anderer Weg gewählt werden, der von einem Sich-entlang-Hangeln an Allgemeinplätzen ebensoweit entfernt wäre wie von dem Sich-Verlieren in Spezialgebieten. Die Voraussetzung dafür ist der Verzicht auf Vollständigkeit, was Namen, Werke, Gattungen und literarische Bewegungen anbelangt, die Konzentration auf einige wenige thematische Schwerpunkte und auf eine überschaubare Zahl von Autoren und Werken, und zwar vor allem auf solche, von denen aus sich die Schwerpunktthemen auf exemplarische Weise ent­wickeln lassen. Ihnen soll hier der Platz eingeräumt werden, dessen es bedarf, um sie auf dem heute geforderten Niveau zu behandeln und der Komplexität der Probleme und der literarisch-ästhetischen Strukturen nicht mehr als nötig schuldig zu bleiben.

      Dabei soll besonders auf ein enges Ineinandergreifen von Problem­entwicklung und Textanalyse geachtet werden; was an Problemen von allgemeiner Bedeutung verhandelt wird, soll sich nach Möglichkeit von Textbefunden her ergeben, wie umgekehrt das, was an Thesen dargestellt wird, von den Texten her plausibel werden soll. Denn

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      nur so wird der Leser wirklich eingeführt werden; nur so kann er ein tieferes Verständnis für die Texte entwickeln und die Wissensbestände, die vor ihm ausgebreitet werden, so aufnehmen, daß er sie selbständig zum Einsatz bringen kann. Die literarischen Texte und die sprachliche Wirklichkeit einer Epoche sollen so oft und so einläßlich wie möglich selbst zu Wort kommen, damit sich der Leser mit ihnen vertraut machen und ein Gespür für sie entwickeln kann. Ohnehin wird die Beschäftigung mit der Literaturgeschichte nur durch die unmittelbare Begegnung mit der Literatur selbst interessant und aufschlußreich. So soll denn diese Reihe von Einführungen weniger den Charakter eines Handbuchs oder eines Notaggregats zum Anpauken von Basiswissen als den eines Lesebuchs haben, das zum Einlesen in die Literaturgeschichte einlädt und dabei nach und nach einen weiteren Horizont des Verstehens und ein Gefühl für die Texte entstehen läßt.

      Der rote Faden:der Weg der Literatur in die Moderne

      Bei solchem Vorgehen ist natürlich alles daran gelegen, nach welchen Gesichtspunkten die thematischen Schwerpunkte gesetzt und die Beispiele ausgewählt werden. Es müssen Gesichtspunkte sein, von denen aus sich die literaturgeschichtlichen Entwicklungen sowohl in der Tiefe als auch in der Breite erschließen lassen. Welche Frage könnte hier aber weiter tragen als die, von der her sich die Beschäftigung mit der Geschichte überhaupt begründet, als die Frage, wie geworden ist, was heute ist; unter welchen Umständen, auf welche Weise, aus welchen Gründen und aus welchen Motiven heraus sich das herangebildet hat, was wir heute an gesellschaftlichen Verhältnissen, an kulturellem Leben und an Literatur vor uns haben. Denn der Blick in die Geschichte ist immer ein Blick von heute aus, und überdies einer, der auch wieder im Heute ankommen will, wie sehr die Vertiefung in die Vergangenheit, das antiquarische Interesse zwischenzeitlich auch zum Selbstzweck werden mag. Wie dieser Blick von den Verhältnissen der Gegenwart seinen Ausgang nimmt, durch sie motiviert und konditioniert ist, so zielt er letztlich auf ein besseres, umfassenderes und schärferes Bild von ihnen. Für die Geschichtsschreibung ist die Gegenwart nun einmal das telos der Geschichte – eine methodische Einsicht, die keineswegs mit dem Bekenntnis zu einem teleologischen Geschichtsbild verwechselt werden darf, die unbeschadet dessen gilt, wie man über Fragen der Teleologie denkt.

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      So soll denn die Geschichte der Neueren Deutschen Literatur hier aufgerollt werden, indem dem Weg der Literatur in die Moderne nachgegangen wird. Und zwar soll dies so geschehen, daß überall gezielt nach den Triebkräften, Formen und Problemen der Modernisierung gefragt wird, wie sie die moderne Sozial- und Kulturgeschichte herausgearbeitet hat. Nur ein solches bewußtes Fragen, das sich nicht einfach der Vorstellung überläßt, alles, was sich in der Neuzeit an Entwicklungen zeige, werde schon irgendwie unterwegs zur Moderne sein, kann dazu führen, daß am Ende wirklich so etwas wie ein roter Faden kenntlich wird.

      Triebkräfte und Formen der Modernisierung – damit sind hier vor allem die folgenden sozial- und kulturgeschichtlichen Phänomene gemeint: 1. die Verwissenschaftlichung von Welt- und Menschenbild durch die moderne Wissenschaft und die Umgestaltung der Lebensformen in ihrem Sinne, bis hin zu den verschiedenen technisch-industriellen Revolutionen, 2. die Säkularisation als fortschreitende Lösung von den Dogmen, Normen und Ritualen der Religion, 3. die Entwicklung neuer Formen von physischer, kommunikativer, weltanschaulicher und sozialer Mobilität, 4. die Individualisierung, die zunehmende Fokussierung auf das Individuum, und 5. die Entwicklung der pluralistischen Gesellschaft als einer Gesellschaft, die einem Pluralismus von Weltanschauungen und Lebensformen Raum gibt. Daß alle diese Entwicklungen von fundamentaler Bedeutung für die Literatur sind, so sehr, daß sich ohne ihre Würdigung deren Geschichte nicht schreiben läßt, liegt auf der Hand. Die Literatur ist sowohl aktiv an ihnen beteiligt, hat sowohl nach Kräften geholfen, sie mit voranzutreiben, als sie durch diese auch selbst eine Umgestaltung erfahren hat, die geradezu ihren Charakter als Literatur verändert hat. Insofern läßt sich ihre Geschichte wohl nur von jenen Entwicklungen aus begreifen.

      Der Weg in die Moderne ist aber nicht nur der Weg eines einsinnig vor sich hin prozessierenden Fortschritts gewesen; er ist nicht minder durch Probleme gekennzeichnet, die allererst solcher Fortschritt in die Welt gebracht hat, und auch die Probleme der Modernisierung haben in der Geschichte der Literatur tiefe Spuren hinterlassen. Die Verwissenschaftlichung der Welt und die dadurch mögliche Mobilisierung aller natürlichen und kulturellen Ressourcen ließ mancherorts einen totalitären Machbarkeitswahn, einen Totalitarismus entstehen. In

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      Verbindung mit der Säkularisation führte der Siegeszug der Wissen­schaft in eine weltanschauliche Unruhe hinein, die vielfach als problematisch erlebt wurde, insofern sie die verschiedensten Formen von Materialismus, Skeptizismus und Nihilismus aus sich entließ. Die neuen Formen der Mobilität wurden von den Menschen immer wieder als eine Art „Entwurzelung“, als Herausgerissenwerden aus einem Gefüge von Lebensformen erfahren, das Sicherheit und Orientierung verbürgte. Der Pluralismus stellte sich als „Verlust der Einheit“ oder „Verlust der Mitte“ dar, und in Verbindung mit der Individualisierung als „Atomisierung“ der Gesellschaft. Und die immer stärkere Fokussierung auf das Individuum führte mancherorts zu einer Art Selbstaufhebung der Individualisierung in einer radikalen Problematisierung des Ichs, die allerlei plurale Ich-Konzeptionen auf den Weg brachte.

      Schließlich gehören zum Weg der Literatur in die Moderne auch die vielen Ersatzreligionen hinzu, die im Zuge der Modernisierung entstanden sind, jene quasi-religiösen Weltanschauungen, die es den Menschen erlauben sollten, sich auf dem Boden einer säkularisierten Kultur mit der Modernisierung und ihren problematischen Seiten ins Benehmen zu setzen. Hier ist zunächst der Glaube an den Fortschritt selbst zu nennen, wie er sich in den Formen des Glaubens an die Geschichte (Historizismus) und des Glaubens an die Wissenschaft (Szientismus) realisiert hat, sodann der Glaube an die Natur (Pantheismus), die „Kunstreligion“ (Ästhetizismus) und die „Humanitätsreligion“, schließlich die „Nationalreligion“ und die anderen politischen Ersatzreligionen als Sonderformen des Historizismus sowie der Glaube an das Leben (Vitalismus) als eine Weiterentwicklung des Pantheismus, bei der das säkularisatorische Moment stärker zur Geltung kommt. Diese Ersatzreligionen gehören neben