Gottfried Willems

Geschichte der deutschen Literatur. Band 1


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und gesellschaftlichen Lebens erfaßt und durchdrungen hat. Schon der Humanismus geht auf eine solche Verwissenschaftlichung aus, aber auf der Basis eines anderen als des modernen Wissenschaftsbegriffs – den hat er selbst erst allmählich aus sich hervorgebracht – so daß „Kunst und Wissenschaft“ hier noch eine fraglose Einheit bilden können. Als die moderne Wissenschaft dann in der Zeit der Aufklärung Gestalt annimmt, zerbricht diese Einheit, und die Kunst sucht die Autonomie gegenüber der Wissenschaft. Seither ist das Verhältnis der Literatur zur Wissenschaft ein ambivalentes; bald sucht sie den Anschluß an sie wie noch in der frühen Aufklärung oder dann im Naturalismus und gelegentlich in der Neuen Sachlichkeit, bald geht sie zu ihr auf Distanz und setzt sich kritisch mit ihren Folgen auseinander wie im Symbolismus, und bald betreibt sie beides zugleich wie in bestimmten Phasen von Klassik, Romantik, Realismus und Moderne.

      Als eine zweite Entwicklungslinie soll die Geschichte der Säkularisation und der mit ihr verbundenen zunehmenden weltanschaulichen Unruhe verfolgt werden. Wenn sich die Literatur bis zum Barock mit der größten Selbstverständlichkeit auf den Boden der christlichen Religion stellte, wobei freilich stets die Frage war, im Sinne welcher Konfession,

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      so ist sie seit der Aufklärung auch hier auf Autonomie ausgegangen, um sich in verschiedenen Ersatzreligionen eine andere Grundlage zu schaffen. In Aufklärung und Klassik sind das vor allem der Pantheismus und die „Humanitätsreligion“, in der Romantik zunächst die „Kunstreligion“ und dann die „Nationalreligion“, im Vormärz darüber hinaus auch der Historizismus. Im Realismus hat es die Literatur dann mit allen diesen Ersatzreligionen gleichzeitig und in wechselnden Mischungen probiert, im Naturalismus vor allem mit dem Szientismus und im Symbolismus wieder mehr mit der „Kunstreligion“, dem Ästhetizismus. Erst in der Moderne des 20. Jahrhunderts haben sich verstärkt areligiöse, atheistische oder agnostische Positionen zu Wort gemeldet, wobei diese vielfach dem Vitalismus verpflichtet blieben.

      Als eine dritte Entwicklungslinie soll die zunehmende Mobilität von Menschen und Meinungen, Informationen und Dingen ins Auge gefaßt werden; dabei soll insbesondere auf die Phänomene der ­sozialen Mobilität eingegangen werden. Wenn sich der Mensch in der frühen Neuzeit weithin noch an einen bestimmten Ort in der Ständegesellschaft, an eine bestimmte Region und Religion und an die von ihnen her gegebenen Traditionen und Konventionen gebunden sah, so lockerten sich seit dem 18. Jahrhundert alle diese Bindungen, um im 19. Jahrhundert, in der Zeit der industriellen Revolution, der Landflucht und der großen Auswanderungen auf eine Weise in Bewegung zu geraten, die zugleich jede erdenkliche Form von Karriere und von sozialem Absturz möglich werden ließ.

      Die Literatur hat diesen Prozeß mit der größten Aufmerksamkeit verfolgt, nicht nur weil ihr von ihm aus immer wieder neuer Erzählstoff zuwuchs. Sie erblickte in ihm ebensowohl einen Prozeß der Befreiung, der der Individualisierung die nötigen Spielräume verschaffte, wie einen Prozeß der „Entwurzelung“, der die Menschen in äußere Unsicherheit und innere Haltlosigkeit stieß, so daß sie nun verstärkt nach den Wurzeln des Menschen fragte, etwa nach Geschichte, Nation und Heimat. Wenn sie hier im Namen der Selbstverwirklichung des Individuums an der weiteren Verflüssigung von Traditionen und Konventionen arbeitete, so vertiefte sie sich dort in die Problematik des „flexiblen Menschen“ (R. Sennett) und suchte in dem unausgesetzten Vorsichhinprozessieren der Modernisierung Räume der „Entwicklungsfremdheit“ (G. Benn) zu eröffnen.

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      Eine vierte Entwicklungslinie, die hier verfolgt werden soll und die für die Literatur von besonders großer Bedeutung ist, ist die Geschichte der Individualisierung. Sie beginnt mit der Individualisierung des Gottesbezugs in den Kirchen der Reformation und insbesondere in den neuen Sekten, etwa im Pietismus, um in Zeiten der Aufklärung zum ureigensten Anliegen der Literatur zu werden. Wenn die Literatur zuvor in allen Belangen auf das Typische ausgegangen war, so vertiefte sie sich nun mehr und mehr in das Originelle, Singuläre und in die Selbstverhältnisse des Individuums. Dabei gewann die Dimension des Unbewußten immer größere Bedeutung für ihr Menschenbild, im 18. Jahrhundert zunächst vor allem in Gestalt der Kräfte des „Es“, der naturgegebenen Instinkte, im 19. Jahrhundert dann zunehmend auch in Form der Kräfte des „Man“, der verinnerlichten Normen einer Gesellschaft.

      Die zunehmende Aufmerksamkeit auf das Unbewußte führte an der Schwelle zur Moderne des 20. Jahrhunderts in Verbindung mit dem Einfluß, den die moderne wissenschaftliche Psychologie in dem szientistisch gestimmten Raum des Naturalismus entfaltete, schließlich zu einer Krise der Ichbegriffe, zur Vorstellung vom „unrettbaren Ich“ (H. Bahr), mit unabsehbaren Folgen für die Literatur. Seither dominieren plurale Ich-Konzepte, die das Bewußtsein unter dem Einfluß des „Es“ und des „Man“ wissen, die Darstellung des Menschen. Das gilt jedenfalls für die Kunstliteratur; die Unterhaltungsliteratur arbeitet weiter mit der überkommenen Charakterpsychologie und wird wohl bis ans Ende aller Tage dabei bleiben.

      Eine letzte, fünfte Entwicklungslinie, von der aus die Geschichte der neueren Literatur erschlossen werden soll, ist der Weg zur pluralistischen Gesellschaft. Er beginnt mit der Reformation, mit der Konfessionalisierung von Kultur und Gesellschaft. Vor dem Hintergrund der Idee der Einheit der Christenheit wird er zunächst freilich immer nur als ein Mißstand begriffen, als eben der Mißstand, als die stete Quelle von Konflikten, die er für die frühmoderne Gesellschaft in der Tat auch ist. Erst der Natur- und Toleranzdiskurs der Aufklärung eröffnet die Möglichkeit, in einem Pluralismus der Religionen, Weltanschauungen und Lebensstile eine Bereicherung des gesellschaftlich-kulturellen Lebens zu erblicken, wenn nicht gar die Grundform einer wahrhaft modernen Gesellschaft.

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      Aus der Wendung der Romantik zum Nationalismus entspringt dann allerdings ein kultur- und zivilisationskritischer Diskurs, der im Laufe des 19. Jahrhunderts in Deutschland immer mehr die Oberhand gewinnt und für den solcher Pluralismus vor allem den „Verlust der Einheit“ oder „Verlust der Mitte“ bedeutet. Hier erscheint er als die innerste Quelle einer Entwicklung, über der sich die Gesellschaft von einer organischen Menschengemeinschaft in ein Gefüge von Institutionen, eine bürokratische Maschine verwandelt und das Individuum jeder Möglichkeit beraubt wird, sich innerlich zu ihr und zu den anderen Individuen ins Verhältnis zu setzen. Von diesem Nicht-fertig-Werden mit dem Pluralismus der modernen Gesellschaft bezieht die Literatur seit der Jahrhundertwende wesentlich die Energien, die sie mit der Überlieferung brechen, die überkommenen Formen sprengen und nach neuen, andersartigen Möglichkeiten der Darstellung Ausschau halten lassen; es begründet jenen „modernen Antimodernismus“, der die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts beherrscht. Ob die zweite Jahrhunderthälfte hier mit dem Schritt in eine Postmoderne einen Wandel hat bringen können, wird sich wohl erst in Zukunft klären.

      Komparatistischer Zugriff

      Daß am Leitfaden dieser Entwicklungslinien in die Geschichte der neueren deutschen Literatur eingeführt werden soll, hat zur Folge, daß hier nicht nur die deutschen Verhältnisse und deutsche Quellen in den Blick genommen werden können. Der Weg in die Moderne ist ja ein Weg, den die Deutschen und ihre Kultur mit anderen europäischen Nationen teilen, den sie mit ihnen gemeinsam und in ständigem Austausch mit ihnen gegangen sind, so daß er kaum verständlich werden könnte, wenn man sich auf Deutsches beschränken wollte. So soll zumindest an einigen neuralgischen Punkten der Entwicklung komparatistisch verfahren und der Einwirkung der Kultur und Literatur dieser anderen Nationen Rechnung getragen werden. Das betrifft zunächst den Humanismus, der ein gemeineuropäisches Phänomen war, wie er sich ja auch vor allem des Neulateinischen als gemeineuropäischer lingua franca bediente. Die wesentlichen Impulse der Aufklärung kommen aus England bzw. Schottland und aus Frankreich nach Deutschland. Die Französische Revolution und ihre Folgen lassen die deutsche Literatur seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert bis weit ins 19. Jahrhundert hinein immer wieder nach Paris schauen. Und auch die ersten Impulse eines Modernismus im engeren Sinne hat die

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      deutsche Literatur mit Symbolismus und Naturalismus aus Frankreich empfangen, um von ihnen aus in den Raum einer internationalen Moderne einzutreten. Dem ist die gebührende Beachtung zu schenken.

      Belegpraxis

      Zum Schluß noch ein Wort zur Belegpraxis.