Gottfried Willems

Geschichte der deutschen Literatur. Band 1


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      Doch niemand kann in die Zukunft schauen, auch kein Dichter. Ein Shakespeare war genauso ein Kind seiner Zeit wie jeder andere

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      unter seinen schreibenden Zeitgenossen, war ebenso in die Lebens- und Vorstellungswelt seiner Epoche eingeschlossen wie sie und verfügte nicht über besondere, vom Himmel der Inspiration gefallene seherische Gaben – wie sollte er auch! Bei dem, was sein Werk vor anderen auszeichnet und was es die große historische Distanz bis heute scheinbar mühelos hat überwinden lassen, kann es sich nur um besondere gedankliche und ästhetische Qualitäten handeln, um Qualitäten, wie sie aus der Fähigkeit eines Autors erwachsen, schärfer und rücksichtsloser als andere in die Welt und auf die Mitmenschen zu blicken und die Möglichkeiten seiner Zeit energischer zu ergreifen und konsequenter und einfallsreicher zu nutzen als sie.

      Zwei weitere Momente kommen hinzu, die dem modernen Leser die Annäherung an die genannten Autoren erleichtern. Zum einen sind sie in Fragen der Religion zurückhaltender als viele ihrer Zeitgenossen, sind sie nicht so penetrant fromm und so ängstlich um theologische Korrektheit bemüht wie diese, was heute vom Leser im allgemeinen mit dem Gefühl der Monotonie quittiert wird: was auch an Geschichten, Gefühlen und Gedanken vor ihm ausgebreitet werden mag – am Ende steht der immer gleiche Sturz in den immer gleichen Abgrund des Glaubens. Von solcher Diskretion kann bei Grimmelshausen allerdings nicht die Rede sein; bei ihm sind religiöse Fragen allgegenwärtig. Dafür kommt sein Werk dem modernen Leser an anderer Stelle entgegen: es verlangt ihm nicht so viel an humanistischer Bildung ab wie das anderer frühneuzeitlicher Autoren, ist nicht in gleichem Maße mit dem gelehrten Wissen der Zeit durchdrungen; davon wird noch zu reden sein.

      Und zum andern sind die Werke dieser Autoren dank ihrer ununterbrochenen Präsenz über die Jahrhunderte hin dem modernen Leser am besten erschlossen. Jede Generation hat sie im Licht der jeweils neu aufkommenden Interessen gedeutet und damit ihr Teil dazu beigetragen, daß sie an den Horizont der Gegenwart herangeführt wurden. Wer heute Shakespeare liest, der kann dabei von dem Bild profitieren, das sich Aufklärung, Klassik und Romantik, Vormärz und Realismus von ihm gemacht haben; denn durch sie sind seine Texte nach und nach mit den meisten der Fragen und Gesichtspunkte in Berührung gebracht worden, die einen Menschen von heute bei der Lektüre leiten mögen.

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      Die Macht des kulturellen Gedächtnisses

      Es gibt in der frühen Neuzeit also doch eine ganze Reihe von Autoren und Werken, die bestens in Erinnerung geblieben sind, die unter dem Vorzeichen großer historischer und ästhetischer Bedeutung auf uns gekommen sind, und überdies auf eine Weise, durch die uns der Zugang zu ihnen leicht gemacht wird. Die Stellung im Haushalt des kulturellen Gedächtnisses und die Zugänglichkeit für den heutigen Leser sind freilich nicht alles. Das kulturelle Gedächtnis ist kein Gottes­gericht, und was dem Leser im ersten Zugriff Mühe bereitet, muß deshalb nicht immer schon irrelevant und uninteressant sein; ja ist es nicht vielfach gerade das wenig Beachtete und halb schon Vergessene, das Sperrige, Beschwerliche und Befremdliche, was uns am ehesten dazu verhilft, neue Erfahrungen zu machen und neue Einsichten zu gewinnen?

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      Erwartung, nämlich eine Art „Null-Erwartung“, und auch solche „Null-Erwartung“ hat Folgen.

      Literaturwissenschaft und kulturelles Gedächtnis

      Das kulturelle Gedächtnis bezeichnet den Wissens-Fond, um nicht zu sagen: den Bodensatz des literarischen Lebens, und so hat es die Literaturwissenschaft zunächst mit ihm aufzunehmen. Seine Kenntnis allein erlaubt es ihr, sich gezielt auf die Problemfelder einzustellen, um deren Bearbeitung willen sie von der Gesellschaft unterhalten wird: auf die Aufgabe, das literarische Leben zu fördern, indem sie ihm ein Mehr an Wissen zuführt und damit seinen Horizont und seinen Aktionsradius erweitert – ein Unternehmen, mit dem sich letztlich die Hoffnung verbindet, daß die Horizonte des individuellen und gesellschaftlichen Lebens so überhaupt erweitert werden könnten, daß sich neue Optionen des Denkens und Handelns eröffnen oder vergessene Optionen neuerlich bewußt werden würden.

      Das erste, was die Literarwissenschaft bei der Annäherung an eine Epoche zu tun hat, ist also, die Bestände des kulturellen Gedächtnisses zu sichten und sich von ihrem Einfluß Rechenschaft zu geben, so wie hier geschehen. Sie kann sich weder damit begnügen, diese Bestände einfach zu übernehmen, noch sie pauschal in Frage zu stellen; vielmehr muß sie versuchen, sie kritisch auf die Vorstellungen und Wertungen hin zu durchleuchten, die ihnen zugrunde liegen, die Voraussetzungen aufzuzeigen, unter denen sie sich gebildet, und die Folgen, die sie gezeitigt haben. Nur so kann ja jenes Mehr an Wissen entstehen, um dessen Gewinnung es zu tun ist.

      Dabei rückt eben das, was der kollektiven Erinnerung entfallen ist, was sie als etwas Beschwerliches und Befremdliches beiseite gesetzt und für überholt erklärt, ja um seiner Unbehaglichkeit willen womöglich verdrängt hat, in den Mittelpunkt des Interesses. Es geht nun gerade um das Vergessene, Verdrängte und Befremdliche, und es geht selbst dort darum, wo man sich die Lieblingskinder des kulturellen Gedächtnisses, die Klassiker vornimmt. Denn anders als die Protagonisten des literarischen Lebens kann es sich ein Literarhistoriker, der die Aufgabe seines Fachs ernst nimmt, nicht mit einem aufklärerischen Cervantes, einem romantischen Shakespeare oder einem realistischen Grimmelshausen bequem machen, muß er es auch und gerade bei solchen kanonischen Autoren mit dem aufnehmen, was von einem heutigen Leser an

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      ihren Werken im ersten Anlauf als irritierend und beschwerlich empfunden werden mag.

      Das Spannungsfeld von Identität und Alterität

      Dem Leser kann dies letztlich nur recht sein. Die Literarhistorie kommt damit nämlich einem Verlangen entgegen, das in jeder Lektüre mit am Werk ist, ja das geradezu einen Grundimpuls des Lesens bezeichnet. Denn warum greifen wir zu einem Buch? Doch weil wir einmal etwas anderes hören wollen; weil wir über die Lebens- und Vorstellungswelt, an die wir gewöhnt sind, hinausgehen und uns mit Möglichkeiten des menschlichen Daseins konfrontieren wollen, die nicht die unseren sind, die uns insofern zunächst fremd sind und vielleicht sogar auf Dauer fremd bleiben. Freilich verbindet sich damit die Hoffnung, über solcher Lektüre auch etwas für die eigene Lebens- und Vorstellungswelt zu gewinnen, zu erleben, daß die eigenen Selbstverhältnisse zugleich sicherer und offener werden und das eigene Leben und Denken sowohl eine Bereicherung erfahren als auch klarere Konturen annehmen.

      Die moderne Literaturwissenschaft verhandelt diese beiden Aspekte des Lesens gerne unter dem Titel „Identität und Alterität“. Lesend gehen wir sowohl auf Momente aus, mit denen wir uns identifizieren können, als auch auf solche, die uns als ein „alter“, ein Anderes, Unbekanntes, Fremdes entgegentreten. Genauer betrachtet, handelt es sich um einen Prozeß dialektischer Wechselwirkung. In der Konfrontation mit Alterität konstituiert sich Identität, und im Innewerden von Identität wird Alterität allererst zu Alterität. Dies ist aber eben als