Gottfried Willems

Geschichte der deutschen Literatur. Band 1


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ihm eintreten und es uns unter diesem oder jenem Aspekt zueigen machen. Damit aber geraten beide Seiten gleichzeitig in Bewegung: Fremdes hört auf, fremd zu sein, und die Identität wird eine andere – was nichts anderes heißt, als daß Momente, mit denen man sich bis dato identifiziert hat, nun selbst zu etwas Fremdem werden.

      Jede Lektüre vollzieht sich in einem Spannungsfeld von Identität und Alterität, Lesergewohnheit und Leserneugier, und je mehr ein Text der Neugier an Alterität, an Unbekanntem, Ungewöhnlichem, Befremdlichem zu bieten hat, desto mehr kann im Leser bei der Auseinandersetzung mit ihm in Bewegung geraten, desto besser sind die

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      Aussichten auf eine spannende und ergiebige Leseerfahrung. Wenn das aber richtig ist, dann muß uns gerade eine Literatur wie die der frühen Neuzeit, die uns wegen ihrer großen historischen Distanz inzwischen in vielem fremd geworden ist, eben weil sie uns fremd geworden ist, besonders viel zu sagen haben. Freilich wird man sich den Schatz an Leseerfahrungen, den sie für uns bereithält, nur in dem Maße ­erschließen können, in dem man es bewußt und gezielt mit diesem fremd Gewordenen aufnimmt, in dem man sich bei der Lektüre nicht mit bequemen Möglichkeiten der Identifikation zufrieden gibt und alles andere einfach überliest.

      Literaturgeschichte im Dienst der nationalen Identität

      Wie bereits erwähnt, gehen die ersten Anfänge der Germanistik auf das frühe 19. Jahrhundert und die nationalromantische Bewegung zurück, formierte sie sich unter dem Vorzeichen des nationalen Gedankens, wie er alsbald nicht nur in Deutschland, sondern überall in Europa zu einer Dominante der Kultur werden sollte. Demgemäß

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      verfolgten ihre Gründer, die Generation der Brüder Grimm, mit dem neuen Fach vor allem ein Ziel: sie wollten ihren deutschen „Volksgenossen“ mit der Erforschung der deutschen Sprache, Literatur und Volkskultur ein Bewußtsein von ihrer nationalen Identität, ihrer deutschen Eigenart geben und damit einen Beitrag zum „Werden der Nation“ leisten; denn das hatten die Deutschen zu Beginn des 19. Jahrhunderts ja erst noch vor sich. In diesem Sinne sollte das neue Fach der alten, der Klassischen Philologie, die sich um die griechische und lateinische Welt kümmerte, als eine Nationalphilologie an die Seite treten.

      Dabei ging man mit größter Selbstverständlichkeit von zwei Voraussetzungen aus, die sich keineswegs von selbst verstehen, die vielmehr durchaus problematisch sind und einer kritischen Prüfung bedürfen. Zum einen begriff man die nationale Identität als Basis der Identität des Individuums; das Ich sollte nur in eben dem Maße zu sich selbst finden, mit sich ins reine kommen können, in dem es sich seines deutschen Charakters bewußt wurde und den „deutschen Volksgeist“, die „deutsche Volksseele“ an sich selbst kultivierte. Und zum anderen verstand man Identität als eine statische Größe; das „deutsche Wesen“ sollte sich dank des immer gleichen deutschen „Bluts und Bodens“ zu allen Zeiten gleich geblieben sein.

      Und so suchte man denn in allen Phasen der Literaturgeschichte, selbst in den ältesten Zeiten, selbst in der altgermanischen Sagenwelt und im Umfeld des ersten namhaften Germanenfürsten Hermann des Cheruskers – jenes Arminius, der den Römern 9 n. Chr. die Schlacht im Teutoburger Wald geliefert haben soll – die Spuren dieses unwandelbaren „deutschen Wesens“. Man kann sich aus heutiger Sicht nur darüber wundern, wie genau man seinerzeit zu wissen meinte, was „deutsche Eigenart“ sei; so war man sich etwa dessen sicher, daß Treue, Biederkeit, Frömmigkeit und Tiefsinn typisch deutsche Werte seien. In sämtlichen bedeutenden Werken der deutschen Literatur sollte sich derlei bald mehr und bald weniger deutlich gezeigt haben, am deutlichsten aber in denen der beiden „Blütezeiten“, der „mittelhochdeutschen“ und der „Weimarer Klassik“. Da sollte alles, was die Identität der Deutschen phasenweise hatte überlagern und niederhalten können, entweder völlig abgeschüttelt oder restlos in „deutsche Eigenart“ verwandelt worden sein.

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      Demgemäß wurde der Alterität hier vor allem die Rolle eines „agent provocateur“ der Identität zugewiesen. Eine Begegnung mit dem Fremden, wie sie den Deutschen zuerst durch die Römer und zuletzt durch die Franzosen zugemutet worden sein sollte, war nur in zwei verschiedenen Formen vorgesehen: in der der Überfremdung, also eines Überfalls auf die deutsche Identität, eines mehr oder weniger gewaltsamen Anschlags auf das „ewige deutsche Wesen“, sowie in der der Anverwandlung, und das heißt: in Form eines Geschehens, bei dem sich das Fremde als ein bis dato noch nicht bewußt gewordenes und unentfaltet gebliebenes Eigenes entpuppte, bei dem es den Charakter der Alterität verlor und zu einem integralen Bestandteil der Identität wurde. So oder so sollte die Begegnung mit dem Fremden nicht mehr und nichts anderes bewirken können als eine neuerliche, nunmehr besonders entschiedene Besinnung auf das Eigene, als ein klareres Bewußtsein der eigenen Identität und eine konsequentere Entfaltung der eigenen Potentiale. Daß es auch einen produktiven Austausch mit dem Fremden geben und die Identität sich dabei zu ihrem eigenen Besten verändern könnte, war außerhalb der Vorstellung. Man hatte eben noch keine dynamischen, hatte nur statische Begriffe von Identität.

      Nationalphilologie und Komparatistik

      Was hier an neuen Formen der Literaturgeschichtsschreibung erprobt wurde, blieb zunächst freilich noch immer den alten Konzepten von Identität und Alterität verhaftet. Denn man versuchte die Grenzen zwischen den Nationalphilologien lediglich dadurch

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      aufzubrechen, daß man die Instanz der Identität tiefer legte, daß man eine gemeineuropäische Identität unterhalb der verschiedenen nationalen Identitäten herauszuarbeiten suchte, als einen gemeinsamen Fond von Wesenszügen, in dem alle europäischen Nationen miteinander verbunden wären. Diese gemeineuropäische Identität dachte man sich aber ebenso als eine statische Größe, als unwandelbare, unverlierbare Eigenart wie die zuvor entwickelten nationalen Identitäten. Sie sollte vor allem auf den drei Faktoren beruhen, in denen man die Grundpfeiler des „Abendlands“ erkennen wollte: 1. auf dem Erbe der Antike, auf dem, was von den alten Griechen und Römern auf die modernen europäischen Nationen gekommen war, 2. auf dem jüdisch-christlichen Erbe, auf den Traditionen der christlichen Religion, und 3. auf dem germanischen Erbe; denn die modernen europäischen Nationen gehen ja weithin auf die Staatenbildung der Germanen in den Zeiten der Völkerwanderung zurück. An einen vierten, womöglich noch wichtigeren Komplex, an die europäische Aufklärung, die nach und nach alle diese Erbschaften kritisch hinterfragt und auf Distanz gestellt hatte, dachte man zunächst noch kaum.

      Kritik am Konzept der Nationalphilologie