Gottfried Willems

Geschichte der deutschen Literatur. Band 1


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noch immer als eine „deutsche Wissenschaft“ begreifen wolle 9 und warum ihre Literaturgeschichtsschreibung so lange auf das Moment der nationalen Identität fixiert gewesen sei. Hatte das die Literatur je wirklich beschäftigt? Hatten nicht seit jeher ganz andere Themen und Probleme für sie im Vordergrund gestanden, Fragen, die überall auf der Welt im Kern die gleichen waren und nur am Rande von den Besonderheiten einer Nationalkultur überformt wurden wie die Frage nach dem Verhältnis von Individuum

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      und Gesellschaft, individueller Freiheit und sozialen Zwängen, Liebe und Gewalt, Selbstverwirklichung, Unterdrückung und Anpassung? Und hatte man nicht selbst bei dem Thema der Identität zunächst und vor allem an sie zu denken? Aus solchen Überlegungen erwuchs eine Literaturwissenschaft, die sich mehr und mehr auf allgemeine sozialgeschichtliche und sozialpsychologische Fragen fokussierte und nur in diesem Zusammenhang noch auf den nationalen Kontext einging.

      Zugleich suchte die Literaturwissenschaft immer tiefer in die Dialektik von Identität und Alterität einzudringen. Dabei wurde sie von jener Entwicklung vor sich hergetrieben, die in den Debatten der Gegenwart unter dem Schlagwort der „Globalisierung“ firmiert, der Entwicklung hin zu einer „multikulturellen Gesellschaft“, wie ein weiteres vielberufenes Schlagwortwort lautet. Wir leben heute in einer Welt, in der immer mehr Menschen immer öfter ins Ausland reisen, ja mit aller Selbstverständlichkeit auf dem gesamten Globus unterwegs sind, sei es weil es das Studium oder der Beruf von ihnen verlangt oder weil sie ihre Freizeit auf Reisen verbringen, und in der ein jeder zugleich in seinem heimatlichen Umfeld immer häufiger mit Menschen zu tun bekommt, die aus einem anderen Kulturkreis stammen und dies in ihrem Gebaren und ihrer Lebensführung weder verleugnen können noch wollen. Wir sind mithin nicht mehr nur ausnahmsweise, bei seltenen Gelegenheiten, sondern permanent und in allen möglichen Zusammenhängen des alltäglichen Lebens mit Alterität konfrontiert, mit Lebensformen, Haltungen, Werten, Weltanschauungen, Religionen, die nicht die unseren sind, die uns fremd sind und die uns insofern einiges an Selbstverleugnung abverlangen – nicht anders als denen, die es mit uns aufnehmen müssen. Natürlich kommt es dabei immer wieder zu Mißverständnissen und Konflikten, ja mancherorts ist gar von einem „clash of civilisations“ die Rede.

      Die Dialektik von Identität und Alterität

      Vor diesem Hintergrund schien es unumgänglich, die Problematik von Identität und Alterität noch einmal neu und anders zu denken. Dabei versuchte man vor allem auf jenem Weg voranzukommen, der hier mit dem Begriff der Dialektik umschrieben worden ist. So wurde nun mit neuem Nachdruck gefragt, inwieweit die eigene Identität an den Vorstellungen beteiligt sei, die man sich von Alterität mache, und wieviel Alterität sich womöglich in dem verberge, was man jeweils für seine Identität halte, zwei Fragen, die die Literaturwissenschaft um so

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      lieber aufnahm, als auch die moderne Literatur des 20. Jahrhunderts mehr und mehr dazu übergegangen war, das Verhältnis von Identität und Alterität in ihrem Sinne zu erkunden.

      „Postcolonial Studies“

      Hier hat man es also gerade auf jene „abendländische“ Identität abgesehen, mit deren Rekonstruktion die Literaturwissenschaft in ihrer komparatistischen Phase die engen Grenzen der Nationalphilo­logien zu überwinden suchte. Und auch die Art und Weise, wie sie seit den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts durch das Starkmachen sozialgeschichtlicher und sozialpsychologischer Fragen der Fixierung auf nationale Identitäten entkommen wollte, findet hier nur wenig Gegenliebe. Denn was sie dabei an Themen und Problemen benannte, die den Menschen aller Nationen und Kulturkreise gemein sein sollten, Themen wie das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft,

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      individueller Freiheit und sozialen Zwängen, Selbstverwirk­lichung, Unterdrückung und Anpassung, gilt den „Postkolonialisten“ als Resultat einer Begriffsbildung, die ganz und gar Europa angehört, die nämlich auf dessen wissenschaftlicher Soziologie und Psychologie beruht, und damit auf einer spezifisch europäischen Kultur von Logik und Wissenschaft. Deshalb wäre es ihrer Meinung nach verfehlt, von ihnen aus außereuropäische Kulturen ins Visier zu nehmen.

      Bei solchen Überlegungen verwickeln sich die „Postkolonialisten“ allerdings immer wieder in einen Widerspruch, der ihr gesamtes Unternehmen gefährdet: sie unterwerfen die Kultur Europas um einer möglichst schlagenden Kritik am „Eurozentrismus“ willen eben den starren Begriffen von Identität und Alterität, deren Anwendung auf fremde Kulturen sie ihr zum Vorwurf machen. Da meint man vielfach nur allzu genau und sicher zu wissen, was die problematischen Merkmale der europäischen Identität seien. Diesem Dilemma können die „Postkolonialisten“ wohl nur dadurch entkommen, daß sie ihre zentrale Frage, die nach dem Anteil der Identität am Definieren von Alterität, konsequent mit deren dialektischem Gegenstück verbinden, der Frage nach der Alterität im Binnenraum der Identität, und daß sie deren Ertrag auch ihrem Bild von der Kultur Europas zugute kommen lassen.

      Das Fremde im eigenen Haus

      Dabei dürfte es sich freilich um den schwierigeren Teil der Aufgabe handeln – schwieriger schon allein deshalb, weil er dem, der sie angeht, eine erhebliche psychische Anstrengung abverlangt. Denn die Frage nach dem, was in der eigenen Identität an Alterität umgehen mag, die Frage nach dem Fremden im eigenen Haus, ist eine unbehagliche Frage. Man möchte nur allzu gerne glauben, in der Kultur der Kollektive, denen man sich zugehörig fühlt – der Nation, der Region, der Gemeinde, der Familie, der Kirche, der Partei, des Vereins, der Alters- oder Berufsgruppe, der „peer group“ – sei einem alles gleich nah und zugänglich, sei man überall gleichermaßen zu Hause und bei sich selbst. Man möchte nicht wahrhaben, daß sich in dem Gefüge von Traditionen und Konventionen, mit dem man sich bei solchem Sich-zugehörig-Fühlen identifiziert, womöglich Momente verbergen, die man bei Lichte besehen nur mit Unverständnis und dem Gefühl der Verunsicherung würde quittieren können. Und doch kommt letztlich niemand daran vorbei, sich der Alterität in der Identität zu

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      stellen, zumal heute, angesichts der Herausforderungen der „Globalisierung“. Denn nur wer um das Fremde im eigenen Haus weiß, kann Mittel und Wege finden, dem Fremden, das von außen an ihn herantritt, auf angemessene Weise zu begegnen.

      Einkehr ins Eigene vs. Begegnung mit dem Fremden

      Die „Nationalphilologie“ Germanistik näherte sich der Geschichte der deutschen Literatur von dem Gedanken aus, daß ein Deutscher beim Gang durch die verschiedenen Epochen nur auf Gegenstände treffen würde, die ihm im Grunde immer schon vertraut wären, in denen er überall sein Eigenstes, das „ewige deutsche Wesen“ würde wiederfinden können, so daß er sich in der Auseinandersetzung mit ihnen immer besser mit sich selbst bekannt machen und seiner Identität immer sicherer werden könnte. Ob Goethe oder Lessing, Opitz, Luther oder Hans Sachs, Walther