Karin Schöpflin

Die Bibel in der Weltliteratur


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Bibel als „Kulturgut“

      BibelDer Begriff „Bibel“ leitet sich ab vom Griechischen ta biblia „Bücher“. Diese Pluralform ist zutreffend, weil die Bibel streng genommen nicht ein einzelnes Buch ist, sondern eine ganze Sammlung von einzelnen Schriften. Diese Sammlung ist zudem zweiteilig: Aus christlicher Perspektive wird der umfangreichere erste Teil als „Altes Testament“ bezeichnet, der zweite als „Neues Testament“[1]. Zusammen bilden sie die verbindliche Glaubensurkunde, den Kanon, der christlichen Kirche. Die „Heilige Schrift“ war und ist Grundlage kirchlicher Lehre und Praxis und christlicher Lebensführung. Da der europäische Raum Jahrhunderte lang unangefochten vom Christentum geprägt wurde, stellt die Bibel damit unbestritten ein bedeutsames Kulturgut des Abendlandes dar.

      ÜbersetzungenDie Bibel der frühen Christen war Griechisch: sie lasen das Alte Testament in der „klassischen“ griechischen Übersetzung, der „Septuaginta“; die neutestamentlichen Schriften waren von vornherein auf Griechisch verfasst worden. Um 400 n.Chr. übersetzte Hieronymus die christliche Bibel ins Lateinische. Diese Übersetzung wurde nur noch geringfügig überarbeitet und als „Vulgata“ zum maßgeblichen Bibeltext im christlichen Abendland. Vom Zeitalter der Reformation an wurde die Bibel verstärkt[2] in die modernen Volkssprachen übersetzt[3] und dadurch allmählich breiteren Bevölkerungsschichten als Lektüre zugänglich. Diese Bibelübersetzungen beeinflussten zudem die Volkssprachen – im Deutschen die Lutherbibel, die 1534 komplett vorlag.

      |4|RezeptionenVon Anfang an wurden Bibeltexte einerseits in kirchlicher Verkündigung und Lehre ausgelegt, andererseits waren sie frühzeitig in vielfältiger Weise Quelle künstlerischer Inspiration. Ihr hoher Stellenwert für Malerei – angefangen mit Illustrationen in kostbaren Bibelhandschriften – und bildende Kunst ist offensichtlich. Doch ist biblisches Gut für Dichtung und Literatur nicht minder bedeutsam. Die Texte von Hymnen und Chorälen beispielsweise schöpften aus der Bibel ebenso wie frühe Dramatisierungen biblischer Stoffe (z.B. Passionsspiele). Diese Werke waren noch an kirchlichen Gebrauch gebunden. Doch lösten sich dichterische Verarbeitungen biblischen Materials zunehmend vom Raum der Kirche. Die biblischen Schriften in ihrer Vielfalt boten und bieten sich für unterschiedliche schriftstellerische Verwendungen an: Nach- und Neuerzählungen biblischer Geschichten in epischen Formen, Bühnenbearbeitungen und Dramatisierungen, lyrische Gedichte – Adaptationen unterschiedlichster Art lassen die biblische Vorlage häufig genau erkennen. Sie bieten den Reiz, in Erfahrung zu bringen, wie deren Verfasser ihre biblische Quelle ausgelegt und wo sie neue, eigene Akzente gesetzt haben. Daneben stehen jedoch auch Werke, die biblische Handlungs- oder Personenkonstellationen, Bilder oder Sprachformen aufnehmen und aktualisierend verarbeiten. Hinzu treten Zitate einzelner Bibelworte, die nicht immer als solche gekennzeichnet sein müssen, oder Anspielungen, die nur einer Leserschaft erkennbar werden, die sich in der Bibel auskennt. Selbst wenn Bibelkenntnisse zum Verstehen solcher Literatur nicht unabdingbar sind, wird das Verständnis zweifellos vertieft und Feinheiten werden sichtbar, die dem Werk eine zusätzliche Dimension verleihen. Damit ein Lesepublikum biblische Bezüge erkennt, bedarf es eines in seinem Wortlaut markanten und bekannten Bibeltextes, also einer Übersetzung, die hohe Akzeptanz in einer Sprachgemeinschaft besitzt und Allgemeingut geworden ist. Für den deutschen Sprachraum dürfte dies immer noch die Übersetzung Martin Luthers, selbst in ihrer indessen mehrfach revidierten Form für sich beanspruchen können.

      Wissenschaftliche BibelkritikNicht zuletzt ist die Bibel auch Gegenstand wissenschaftlicher Betrachtung und Auslegung. Auch dies gilt von frühester Zeit an; man denke nur an philologische Arbeiten und Kommentierungen der Kirchenväter. Von der Alten Kirche an bis in das Zeitalter der Vernunft verstand man die Bibel generell als Gottes Wort, als göttliche Offenbarung; die menschlichen Verfasser galten |5|als göttlich inspiriert, während sie Gottes Wort in menschliche Sprache kleideten und zugänglich machten. Unter dieser Maßgabe las man die Bibel – aus moderner Perspektive gesprochen – unkritisch. Es bildeten sich noch in biblischer Zeit Traditionen, die einzelne Bücher aus der Bibel bekannten Persönlichkeiten zuschrieben; z.B. galt Mose als Autor der Torah, David als Dichter des Psalters oder der Lieblingsjünger Jesu als der Evangelist Johannes. Hinzu trat die Neigung, offensichtlich vorhandene Widersprüche – beispielsweise beim Vergleich von Inhalt und Gottesbezeichnungen der beiden Schöpfungserzählungen in Genesis 1 und 2 – zu harmonisieren. Abgesehen von einigen wenigen älteren Ausnahmen[4] entwickelte sich eine kritische Wahrnehmung biblischen Schrifttums in der Aufklärung. Nun las man die Bibel wie andere antike Literaturwerke als rein menschliches Produkt, entdeckte in den vorfindlichen Widersprüchen Spuren einer komplexen Entstehungsgeschichte der Texte, die nicht aus einer Feder stammen, sondern teils in Jahrhunderte langen Prozessen allmählich die heutige Gestalt erreichten. Kritische Bibelwissenschaft ist seit dem späten 18. Jahrhundert darauf bedacht, die Schriften des Alten wie des Neuen Testamentes historisch zu verstehen, also ihre theologischen Aussagen in ihren sich wandelnden Entstehungskontexten zu begreifen und ihr allmähliches Werden ausgehend von möglichen mündlichen Vorstufen über frühe schriftliche Fassungen und deren redaktionelle Bearbeitungen bis zur Endgestalt nachzuzeichnen. Diese historisch-kritischen Zugänge waren und sind nicht unumstritten. In diesem Band kann die wissenschaftliche Analyse der Bibel weitgehend, wenn auch nicht völlig, ausgeblendet werden, denn für die Aufnahme und Verarbeitung biblischen Materials durch Dichter und Schriftsteller spielt sie nur eine relativ geringe Rolle. Bis zur Aufklärung und darüber hinaus haben Dichter die Bibel ganzheitlich, „kanonisch“, gelesen, ohne den vorliegenden Text – seit der Reformation in aller Regel eine in ihrer Muttersprache verfügbare Übersetzung – zu hinterfragen.

      Literarische BibelkritikAllerdings erfuhr die Bibel seit jeher literarische Aufnahme nicht nur durch bekennende, praktizierende Christen, sondern auch kritische Lektüre, die kirchlicher Auslegung widersprach. Neben die Bibel traten zudem etwa klassisch-antike Traditionen als zweite Inspirationsquelle, und nicht selten gingen beide eine Synthese ein. Man wird mit biblischen Einflüssen und Bezügen |6|in der Literatur rechnen müssen, auch bei Autoren, die man auf Anhieb nicht unbedingt mit dem Christentum in Verbindung bringen und in deren Werk man biblische Bezüge nicht unbedingt vermuten würde. Goethes Äußerung „Wenn ich in ein Gefängnis geworfen würde und nur ein Buch mitnehmen dürfte, wählte ich die Bibel.“, mag ebenso überraschen wie Brechts Auskunft anlässlich einer Zeitungsumfrage im Jahr 1928, auf die Frage, welches, literarisch gesehen, sein stärkster Eindruck sei: „Sie werden lachen – die Bibel.“[5] Die Bibel ist bis in die Gegenwart hinein Anregung und Folie geblieben, selbst für überzeugte Nicht-Christen und „Atheisten“.

      |7|2. Bedeutungen der Bibel für die Literatur am Beispiel von Goethes Faust. Der Tragödie erster Teil

      Nach mehrjähriger Beschäftigung mit dem Stoff erschien der erste Teil der Tragödie 1808 im Druck. Sie weist vielfältige biblische Bezüge auf, von denen markante Beispiele herausgegriffen werden.

      2.1. Bearbeitung biblischen Materials: Der Prolog im Himmel

      Die Himmelsszenen des HiobbuchesNach dem allgemeiner gehaltenen, das dramatische Medium reflektierenden Prolog auf dem Theater führt der Prolog im Himmel in die Tragödie selbst ein. Goethe (1749–1832) greift darin deutlich auf das Buch Hiob zurück, das in den beiden Eingangskapiteln zwei Himmelsszenen (1,6–12; 2,1–6) enthält, deren zweite die erste wiederholt und zugleich weiterführend geringfügig variiert. In diesen biblischen Szenen findet ein himmlischer Thronrat statt: Es versammeln sich die Gottessöhne vor dem HERRN, unter ihnen auch der „Satan“. Gott tritt in einen Dialog mit ihm, erkundigt sich nach seinem Knecht Hiob, den er charakterisiert als „fromm und rechtschaffen, gottesfürchtig und meidet das Böse.“ Der Satan unterstellt, dass Hiob nur solange gottesfürchtig bleibt, wie er Gottes Segensgaben genießt: seinen Reichtum an Vieh, Dienerschaft und Kindern. Gott gestattet Satan daraufhin, Hiob Besitz und Familie zu nehmen unter der Bedingung, dass er Hiobs Leben nicht antastet.[6]

      Erzengel loben die SchöpfungIn seinem Prolog folgt Goethe der Tradition, die die Gottessöhne als Engelwesen interpretiert: Goethe lässt die himmlischen Heerscharen und die drei Erzengel Raphael, Gabriel und Michael auftreten. Letztere kommen in der Bibel vor[7], doch entwickelte sich die Vorstellung von Engelwesen vor allem außerhalb der