Karin Schöpflin

Die Bibel in der Weltliteratur


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(614–622). Als Ebenbild Gottes fühlt sich Faust wie (ein) Gott und nicht mehr wie ein „Erdensohn“, wie Adam, den Gott aus Erde schuf (Gen 2,7). Er fühlt sich aufgrund der Gottebenbildlichkeit einem Cheruben überlegen, einem göttlichen Wesen, das jedoch Gott untergeordnet ist[14]. Das verächtliche Wort des beschworenen |12|Geistes hat ihn jedoch buchstäblich wieder auf den Boden zurückgeholt, so dass er konstatiert:

      Den Göttern gleich’ ich nicht! Zu tief ist es gefühlt;

      Dem Wurme gleich’ ich, der den Staub durchwühlt,

      Den, wie er sich im Staube nährend lebt,

      Des Wandrers Tritt vernichtet und begräbt. (652–655)

      Er fühlt sich nun wie die niedrigste Kreatur, die im Staub lebt und unversehens umkommt. Der Staub als ihr Lebenselement und ihr leicht eintretender Tod betonen ihre Vergänglichkeit. Zugleich mag der „Wurm“ auch die Schlange assoziieren, die nach dem Sündenfall des Menschen verflucht wurde, auf dem Bauch zu kriechen und Erde zu fressen und von den Nachkommen des Menschen zertreten zu werden (Gen 3,14–15). Diese Assoziation deutet darauf hin, dass auch Faust sich wie verflucht empfindet.

      Bezüge zur Anthropologie der biblischen SchöpfungserzählungenDie genannten biblischen Bezüge und Anspielungen in dieser Eingangsszene der Tragödie verweisen auf Texte, die sich mit der Erschaffung des Menschen und seinem Sündenfall befassen und die Frage nach der Stellung des Menschen innerhalb der Schöpfung und gegenüber Gott implizieren. Es besteht eine Spannung zwischen der Gottebenbildlichkeit des Menschen nach Gen 1 sowie der durch die Verbotsübertretung erlangten gottgleichen Erkenntnis des Menschen nach Gen 2–3 und seiner Kreatürlichkeit, die seine Vergänglichkeit und Begrenztheit seiner Erkenntnismöglichkeiten einschließt. Eben diese Spannung macht Faust zu schaffen, weil er sich mit dieser Grundbefindlichkeit des Menschen nicht abfinden kann. Die biblischen Anspielungen passen zudem zur Figur des Faust, der ja auch als studierter Theologe eingeführt wird.

      |13|Goethe hat eben diese genannten Verweise auf biblisches Gut bewusst gewählt; sie machen insofern die Eigenart seiner Bearbeitung des Faust-Stoffes aus. Das lehrt ein Vergleich mit der Eingangsszene von Christopher Marlowes The Tragical History of Doctor Faustus (zwischen 1587 und 1593): Dort geht Faust in seinem Studierzimmer die Fakultäten durch und zitiert jeweils kurze Sätze aus Werken, die für Philosophie, Medizin und Jurisprudenz bedeutsam sind. Für die Theologie holt er zum Abschluss die Bibel des Hieronymus, d.h. die Vulgata hervor und zitiert daraus zwei neutestamentliche Stellen (Römer 6,23 und 1Joh 1,8)[15], die den Tod als der Sünde Sold und die unbestreitbare Sündhaftigkeit des Menschen konstatieren. Durch die unterschiedlichen biblischen Verweise setzen Marlowe und Goethe je eigene Akzente in der Deutung des Titelhelden.

      |14|3. Zu diesem Band

      KonzeptDies Buch möchte nicht die Reihe der bereits vorhandenen klassischen Bibelkunden um ein weiteres Exemplar vermehren. Dennoch soll es Wissen über die Bibel vermitteln, allerdings mit einer Zuspitzung auf die Elemente, die in der literarischen Rezeptionsgeschichte der Bibel relevant geworden sind. Geboten wird also ein Überblick über die biblischen Schriften des Alten und Neuen Testaments, die schwerpunktmäßig in bedeutsamen Werken der „schönen Literatur“[16] aufgegriffen wurden. An ausgewählten Werken der Weltliteratur wird exemplarisch Einblick in die Wirkungsgeschichte der Bibel gegeben. Angestrebt wird damit eine interdisziplinäre Zusammenschau von Bibel und Literatur. Literaturwissenschaftlich Interessierten sollen Grundinformationen über die Bibel geboten werden, die ungebrochene Relevanz der Bibel für die Literatur soll demonstriert und dazu angeregt werden, biblische Bezüge und Spuren auch in hier nicht behandelten Werken wahrzunehmen und zu entdecken. Auf der anderen Seite soll theologisch und bibelwissenschaftlich Interessierten die reiche Rezeptionsgeschichte der Bibel in der Literatur exemplarisch illustriert werden, die manchen Bibeltext rückblickend in ein neues Licht rückt. Damit der Zusammenhang zwischen biblischer Vorlage und deren literarischer Rezeption leicht nachvollziehbar wird, folgen auf die Vorstellung biblischer Einheiten (Biblisch) jeweils unmittelbar Abschnitte zu literarischen Werken (Literarisch), deren Verfasser das einschlägige biblische Material nutzten. So sind die einzelnen Abschnitte je für sich lesbar.

      VorentscheidungenEin Projekt wie dieses erfordert weitere Vorentscheidungen, die teils naturgemäß mehr oder minder subjektiven Charakter besitzen. Notwendig ist eine Entscheidung über den zugrunde gelegten biblischen Kanon. Ausgegangen wird hier in Umfang und Anordnung von dem altkirchlichen christlichen Kanon, also der griechischen Tradition, so dass die so genannten deuterokanonischen |15|bzw. apokryphen Schriften[17] einbezogen sind. Wegen ihrer Verbreitung, Wirkung und ihrer eigenen literarischen Qualität wird die Lutherübersetzung zitiert. Alle literarischen Werke werden in deutschen Übersetzungen geboten, um Einheitlichkeit und allgemeine Verständlichkeit der Darbietung zu gewährleisten.

      Die Bibel wird in ihrer Gesamtheit betrachtet, also nicht nur in einem Ausschnitt, nicht nur eine biblische Gestalt (z.B. Hiob), ein Stoff oder dergleichen. Präsentiert wird eine Auswahl aus Werken der Weltliteratur, die – mit zwei Ausnahmen – vor 1945 entstanden. Alternativ wäre eine Beschränkung auf einen Sprachraum, eine Epoche (Barock, 20. Jh.) oder auf einen Schriftsteller (Shakespeare und die Bibel) denkbar. Gerade in der Sprachen, Zeit und biblische Materialien übergreifenden Präsentation scheint jedoch ein Reiz zu liegen, da damit ansatzweise eine literarische Kulturgeschichte in den Blick kommt.

      Die Marginalia bieten inhaltliche Stichworte und erleichtern so die Orientierung. Das Sachregister ermöglicht es, Querverbindungen innerhalb des biblischen Schrifttums – dabei spielen die Bezüge zwischen Alten und Neuem Testament eine besondere Rolle – sowie zwischen biblischem Material und rezipierenden literarischen Werken aufzufinden.

       [Zum Inhalt]

      |17|A: Das Alte Testament

      |19|Einleitung

      Hebräischer KanonGrob betrachtet haben christliche und jüdische Glaubensgemeinschaften das „Alte Testament“[18] gemeinsam und sehen es als Glaubensurkunde an. Genau genommen muss man hier jedoch differenzieren: 39 Einzelschriften, die ursprünglich in hebräischer Sprache verfasst waren, wurden im Verlauf des 2. Jahrhunderts n.Chr. zu für jüdischen Glauben und religiöse Praxis verbindlichen Schriften erklärt, d.h. kanonisiert. Diese „Hebräische Bibel“ war nach dem Zeugnis der Vorrede (1,1) des Buches Jesus Sirach bereits im 2. Jahrhundert v.Chr. in drei Teile gegliedert. Sie erhielt später nach den Anfangsbuchstaben dieser drei Teile – Torah („Weisung“), Nebi’im („Propheten“), Ketubim („Schriften“) – die Bezeichnung „Tanak“.

       Die Torah oder der Pentateuch[19] umfassen die Bücher Genesis („Entstehung“[20]), Exodus („Auszug“), Leviticus („Priesterliches“ [sc. Gesetz]), Numeri („Zahlen“) und Deuteronomium („zweites Gesetz“) (Luther: 1.–5. Mose).

       Die Propheten sind in der Hebräischen Bibel unterteilt inVordere Propheten: Josua, Richter, die beiden Samuelbücher und die beiden Königebücher; undHintere Propheten: Jesaja, Jeremia, Ezechiel, Hosea, Joel, Amos, Obadja, Jona, Micha, Nahum, Habakuk, Zefanja, Haggai, Sacharja, Maleachi.

       Als „Schriften“ werden im Tanak zusammengestellt: Psalmen, Sprüche, Hiob, Hoheslied Salomos, Rut, Klagelieder, Prediger Salomo, Ester, Daniel, Esra, Nehemia, Chronikbücher.

      Griechischer KanonDiese hebräischen Schriften waren bereits in vorchristlicher Zeit für den Gebrauch in Griechisch sprechenden jüdischen Gemeinden in Ägypten (Alexandria) ins Griechische übersetzt worden. Da der Legende[21] nach 70 bzw. 72 Gelehrte diese Übersetzung besorgt hatten, erhielt sie den Namen „Septuaginta“ (LXX). Dieser griechische Kanon umfasst über den Tanak hinaus noch weitere |20|sieben Schriften und einige Stücke, die als Deuterokanonische Literatur bzw. Apokryphen bezeichnet werden[22].