Dieser Text ist für die Frage nach dem Werden des Apostolikums von größtem Interesse, weil es sich um den ältesten erhaltenen Bekenntnistext aus dem Westen des Römischen Reiches handelt. Zwar war bereits von der Synode von Nizäa (325) ein Glaubensbekenntnis formuliert worden, dem in den 340er und besonders in den 350er Jahren eine ganze Reihe ähnlich gebauter Formeln folgen sollte. Solche deklaratorischen Texte, die der Sicherung des Glaubens in einer knappen Formel dienten, waren im Westen aber offenbar weder gebräuchlich noch überhaupt bekannt: Noch 359 informierte Hilarius von Poitiers (†367) gallische, germanische und britische Bischöfe über die Existenz und Notwendigkeit solcher Glaubensbekenntnisse, |34|die diesen bislang noch gar nicht untergekommen seien.[52] In Rom gab es zu diesem Zeitpunkt immerhin schon eins – aber was für einen Text haben wir da vor uns?
Die Frage, die sich nun stellt, ist letztlich die nach der Henne und dem Ei: Zitierte Markell um der Anerkennung seines rechten Glaubens willen ein Bekenntnis, das die römischen Synodalen als ihr eigenes erkennen würden? Das ist die klassische These, die von Ussher bis Kelly vertreten und in der neueren Diskussion von Westra bekräftigt worden ist.[53] Der Brief und das darin enthaltene Bekenntnis wurden auf Griechisch verfasst, damit beides den Adressaten im Osten zugänglich wäre. Der griechischsprachige Markell hätte dann ein lateinisches Bekenntnis selbst übersetzt (oder übersetzen lassen) oder auf einen Text zurückgegriffen, der aus der Zeit stammt, als die Liturgiesprache in Rom noch das Griechische war, also vermutlich aus dem 3. Jahrhundert oder gar noch früher. Oder übernahm die römische Gemeinde für den katechetischen Gebrauch ein Credo, das Markell ad hoc formuliert und der Synode vorgelegt hatte? Das ist die These, die Markus Vinzent 1999 vorstellte und die gut ein Jahrzehnt lang die Diskussion über die Entstehung des Romanums bzw. des Apostolikums befeuert hat.[54] Dann wäre zu überlegen, wann und von wem ein von Markell selbst auf Griechisch formuliertes Bekenntnis ins Lateinische übersetzt worden wäre, um in die römische Taufunterweisung integriert zu werden.
Was die Übersetzungen in die eine oder andere Richtung anbelangt, gibt es m. W. keine plausiblen Hypothesen. Gestritten wurde aber engagiert über die Vinzent’sche These eines markellischen Ursprungs des Apostolikums. Verhielte es sich so, wäre das nicht zuletzt durch den Umstand bemerkenswert, dass das meistgebrauchte Bekenntnis im Westen, das Apostolikum, von einem Theologen stammt, |35|dessen Vorstellung einer eschatologischen Wiederzusammenfassung der heilsgeschichtlich entfalteten Trias zur uranfänglichen Monas im 381 abgefassten Nizäno-Konstantinopolitanum mit scharfem Widerspruch bedacht wird.[55] Das mag auf sich beruhen. Wichtiger für die hier verfolgte Fragestellung ist, dass Vinzent nicht als erster beobachtet, aber die weitestgehenden Schlüsse daraus gezogen hat, dass das Romanum unstrittig erstmals bei Markell zu finden ist und vor dem Jahr 341 als Text keine unmittelbare Vorgeschichte hat – jedenfalls keine, die in der heute zugänglichen Überlieferung Spuren hinterlassen hätte. Dann bestünde konsequenterweise das Apostolische am Apostolikum nicht in einer personalen Traditionskette, sondern in der kreativen und letztlich sehr erfolgreichen Zuschreibung neuerer Lehrbildungen an die Apostel. Es gäbe dreihundert Jahre nach dem Ausschwärmen der Apostel über den Erdkreis also durchaus ein Werden des Apostolikums, das aber nicht zuerst in Rom und nicht als Romanum, sondern gewissermaßen als »Markellum« das Licht der Welt erblickt und dann in Rom Karriere gemacht hätte.[56]
Diese These hat nur zum Teil Anklang gefunden; die Diskussion ist mittlerweile wieder abgeebbt.[57] Uta Heil hat in Auseinandersetzung |36|mit Vinzent die Vermutung vorgetragen, dass möglicherweise die römische Synode, die sich mit Markells Orthodoxie befasste, selbst ein Bekenntnis formulierte und ihm vorlegte, das dann dieser übernahm (und nicht andersherum).[58] Träfe dies zu, trüge »diese Passage aus Markells Brief doch zu Recht den Namen Romanum«.[59] Wenn freilich auf dieser Synode »die Theologie Markells verhandelt wurde«, erklärt dies m.E. – gegen die These Uta Heils – gerade nicht, »warum in diesem Text die im Osten heftig umstrittenen Begriffe und Thesen kaum vorkommen«. Ihr zufolge sei »traditionelles Material«, teils aus frühchristlichen regulae fidei, und Informationen aus der Frühphase des trinitarischen Streites (von Alexander von Alexandrien übermittelt) verarbeitet worden. Dass der meinungsstarke und literarisch produktive Markell als Protagonist der jetzt laufenden Debatte, der eindeutig die Sympathien der römischen Synode genoss, keinen Einfluss auf die inhaltliche Präzisierung gehabt hätte, erscheint jedenfalls erklärungsbedürftig, zumal die verwendete Gattung des Bekenntnisses im Westen offensichtlich neu war. Man hätte daher auch, wenn man Uta Heil folgt, eher mit einem neuen Romanum als einem traditionellen Text zu rechnen.
|37|3.2. (Fast) zurück zu den Aposteln: Die frührömischen Tauffragen
Bei alledem ist unbestritten, dass ein in Rom genutzter Bekenntnistext vor dem 4. Jahrhundert nicht zu identifizieren ist – wenn man nicht aus dem Brauch der Taufkatechese automatisch auf ein dieser zugrundeliegendes Bekenntnis schließen will, was reine Spekulation wäre. Der vielleicht ernüchternde Befund passt freilich zu der weiter ausgreifenden These, dass überhaupt erst die Reichssynoden des 4. Jahrhunderts deklaratorische Bekenntnisse formuliert hätten. Das betonte nicht erst Markus Vinzent, sondern schon lange zuvor Hans von Campenhausen, und Adolf Martin Ritter ist ihm darin mit guten Gründen und weitgehender Zustimmung der Zunft gefolgt.[60] Das Nizänum (oder das in seiner Authentizität freilich notorisch umstrittene und zudem nur in späterer syrischer Übersetzung erhaltene Credo der Synode von Antiochien 324/25) wäre dann das erste Bekenntnis seiner Art.[61] Hingegen handelt es sich bei dem von Euseb von Caesarea († ca. 340) auf dem Konzil von Nizäa vorgelegten Bekenntnis entgegen einer lange vorherrschenden Ansicht[62] nicht um das in seiner Heimatgemeinde übliche Taufbekenntnis, sondern um ein frühes Exemplar der sogenannten »Theologenbekenntnisse«, wie es im selben Zeitraum z.B. auch Arius und ihm folgende alexandrinische Kleriker verfassten.[63]
Wie aber konnte man in der älteren Forschung auf den – teils auch noch in der gegenwärtigen Literatur nachwirkenden – Gedanken kommen, dass es schon länger das Romanum und damit eine Vorstufe |38|des Apostolikums gegeben habe, wenn dies doch textlich nicht nachweisbar ist? Dafür lassen sich drei Gründe nennen, denen neuerdings einhellig widersprochen wird:
1 Die Unterscheidung von Glaubensregeln und deklaratorischen Bekenntnissen wurde nicht hinreichend beachtet.[64] Es gibt durchaus konfessorische Kontinuität seit dem frühen Christentum, nur liegt diese offensichtlich nicht in der Existenz und Nutzung von textlich fixierten Bekenntnissen zu antihäretischen, katechetischen oder liturgischen Zwecken, sondern in dem flexiblen Instrument der regula fidei, das etwa bei Irenaeus von Lyon oder Tertullian belegt ist. Deklaratorische Bekenntnistexte sind vor dem 4. Jahrhundert nicht belegt, weder in Rom noch anderswo.
2 Freilich hat man seit der Entdeckung der Traditio apostolica und deren Zuschreibung an Hippolyt von Rom († ca. 235) gemeint, einen direkten Blick in die Praxis der römischen Kirche werfen und aus der Nähe des (postulierten) Taufbekenntnisses dieses Textes mit dem Romanum und einigen Texten bei Tertullian eine römische Bekenntnistradition rekonstruieren zu können.[65] Die Möglichkeit, aus der nicht im Original erhaltenen und wohl fälschlich Hippolyt zugewiesenen Traditio apostolica Schlussfolgerungen über römische Riten im frühen 3. Jahrhundert ziehen zu können, ist mittlerweile allerdings nachhaltig erschüttert.[66] Gerade die Tauffragen scheinen das Gepräge der trinitätstheologischen |39|Debatten der Zeit nach Markell zu tragen. Würde man daher die lateinische Übersetzung der Traditio apostolica auswerten, die in der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts entstand, hätte man es mit einem zeitlich nach Markells Brief zu verortenden Text zu tun,[67] nicht mit einer älteren oder gar apostolischen Tradition.
3 Schließlich ist die Forschung über weite Strecken davon ausgegangen, dass auch schon in vorkonstantinischer Zeit die Taufunterweisung anhand eines fixierten Bekenntnisses vorgenommen worden sei, obwohl dafür ein klarer Beleg aus der Zeit vor Kyrill von Jerusalem, Augustin und anderen fehlt.[68] Weithin üblich waren hingegen Tauffragen, meist in trinitarischer Gestalt, und blieben es auch im 4. Jahrhundert und weit darüber hinaus.[69] Nicht deklaratorische, wohl aber interrogatorische Bekenntnisse