stellt im prinzipiellen Denken insofern eine Leistung dar, als es paradoxerweise eine Menge Sachverhalte und Überlegungen voraussetzt. Anfangen kann nur, wer bereits angefangen hat; wie beim hermeneutischen Zirkel (Kap. 10) kommt es also darauf an, in richtiger Weise in das Thema hineinzukommen und sich den Anfang zu erarbeiten. Ein zeitgenössischer Schriftsteller hat es prägnant formuliert: „Der Anfang ist einfach. Erst spät versteht man, wie schwierig der Anfang war.“ (Desperes 1998, S. 17) Damit der Leser auf dem Gebiet der Literaturtheorie anfangen kann anzufangen, ist dieses Buch geschrieben worden.
Es gehört zu den fundamentalen methodischen Paradoxien der Geistes- und Kulturwissenschaften, dass ihre Gegenstände mit einer zunehmenden höheren Auflösung des Blicks auf sie, d. h. in gesteigerter Genauigkeit des Zugriffs auf Strukturen, Zusammenhänge und Kontexte auf der mikroskopischen Ebene, oft eine völlig andere Beschreibung erzwingen als auf der makroskopischen Ebene – ohne dass deren Beschreibungen dadurch wiederum einfach negiert wären. Übergreifende, allgemeine und zusammenfassende Analysen historischer Phänomene der Kultur scheinen beinahe notwendig im konkreten Blick auf singuläre Gegenstände korrigiert, transformiert oder revidiert werden zu müssen. Zugleich können jedoch
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diese notwendigen Detailanalysen die Beschreibungen der übergreifenden Zusammenhänge, als deren kritische Verwandlung sie entstehen, nicht einfach ersetzen. Folglich müssen allgemeine Beschreibungen von vornherein richtig als Problemhorizonte, als narrativ, kausal bzw. rational geflochtenes Netz von Fragen verstanden werden. Diesen Problemnarrativen ist ihre Überschreitung als ‚kritischer Imperativ‘ eingeschrieben und als Aufforderung an den Leser mitgegeben: Nutze die allgemeinen historischen Muster und systematischen Kategorien als Fenster, durch das man erst auf die konkreten Phänomene schauen kann! In diesem Sinne sind auch die Ausführungen dieses Buches zu verstehen. Natürlich erheben auch Sie keinen Anspruch auf Vollständigkeit, alle möglichen Aspekte des jeweiligen Problemkomplexes vorzustellen. Schon die Auswahl der Theorieangebote, welche der Autor für besonders paradigmatisch hält, um an ihnen grundlegende Fragen des Begriffsfeldes diskutieren zu können, lässt sich stets kritisieren. Als Lehr- und Seminarwerk jedoch will das Buch ermöglichen, auch das, was manchem Fachkollegen vielleicht in dem einen oder anderen Kapitel fehlen mag, genauer und leichter anhand dessen zu diskutieren, was zur Verfügung gestellt wird. Denn Leerstellen sind nur in einem begrifflichen Koordinatensystem genau bestimmbar: In diesem Sinn will dieses Buch Grundprobleme so weit verständlich machen, damit alle nicht angesprochenen Aspekte sich mühelos in diese eintragen lassen. (Für einen umfassenderen und kleinteiligeren, gleichwohl narrativ ausgreifenden systematischen Überblick über das Ganze von Literaturwissenschaft und Literaturtheorie verweise ich auf zwei hervorragende Nachschlagewerke: zum einen auf das dreibändige Handbuch Literaturwissenschaft, das von Thomas Anz herausgegeben wurde. Zum anderen auf das ebenfalls dreibändige Fischer Lexikon Literatur unter der Herausgeberschaft von Ulfert Ricklefs. Auf die in beiden Werken zu dieser Einführung korrespondierenden Abschnitte wird im Band nicht extra verweisen; gleichwohl seien die Einzelverweise vom Leser stets unausgesprochen mitgedacht. Des Weiteren werden die entsprechenden Einträge im Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft sowie im Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie empfohlen).
Manch einem mögen außerdem die literarischen Beispiele fehlen, an denen und durch die Theorie erst lebendig und plausibel wird. Der Ver-
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such, die einzelnen Kapitel überschaubar zu halten und ohne allzu große Ablenkung bestimmte Theoriebausteine in ihrem historischen wie systematischen Zusammenhang übersichtlich darzustellen, hat dieses Opfer gefordert. Der Leser möge dies als Aufforderung verstehen, an seinen eigenen Lektüreerfahrungen immer wieder aufs Neue die „Probe aufs Exempel“ zu machen: Jede Theorie ist nur soweit sinnvoll, als sie Erfahrungsmaterial zu erschließen und zu erklären vermag. Die so erkaufte Fasslichkeit dieses Büchleins hingegen soll Leser dazu ermutigen, den Einstieg in das literaturtheoretische Denken zu wagen, weil neben der Mühe der Verstehens nicht auch noch riesige Textmassen in Bewegung gesetzt werden müssen. Dementsprechend sind auch einige inhaltliche Wiederholungen nicht getilgt worden, sodass zum einen jedes Kapitel auch für sich lesbar ist und zum anderen auf den „Verstehenseffekt“ der Wiederholung gesetzt wird.
Zum Gegenstandsbereich des Buches ist im Sinne eines „Vorbegriffs“ hinzuzufügen, dass hier ein „enger“ Literaturbegriff erst einmal fraglos Anwendung findet: Mit „Literatur“ ist also die „schöne“ bzw. künstlerisch gestaltete und gemeinte Literatur bezeichnet, deren Begriff sich vor allem im 18. Jh. herausbildet und die stets das Zentrum der modernen Disziplinen „Literaturwissenschaft“ und „Literaturtheorie“ gebildet hat. Diese Schwerpunktsetzung soll in keiner Weise normative Grenzen verfestigen, sondern ist einzig dem historisch gegebenen Theorierahmen des Faches sowie dem Genre der Einführung in den Kernbereich literaturwissenschaftlicher Beschäftigung geschuldet (als Hinweis auf die verschiedenen Literaturbegriffe Kap. 14.2).
1.2
Die Notwendigkeit der Theoriebildung für die LiteraturWarum aber ist überhaupt ein theoretisches Nachdenken über Literatur notwendig? Liegt nicht der „Sinn“ von Kunst, also auch von Literatur, in ihrem „Erleben“ (Kap. 9.2)? Ist Literatur nicht eigentlich dafür gemacht, dass man in sie eintaucht und ihre dargestellten Welten im erlebenden Nachvollzug erkundet? Ist es aber dann überhaupt angemessen, dass man entweder ihre einzelnen Werke analytisch zergliedert (Lite-
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raturwissenschaft) oder gar abstrakt darüber nachdenkt, was Literatur an sich eigentlich sei (Literaturtheorie)? Eine solche Position, die jede Übersetzung der Literatur in wissenschaftliche Begriffe ablehnt oder wenigstens als problematisch betrachtet, ist eine Art der Autonomieästhetik (Kap. 12.1). Historisch gesehen hat sie sich Ende des 18. Jh., in den Epochen von „Sturm und Drang“, Spätaufklärung, Weimarer Klassik und Deutschem Idealismus entwickelt und ist vor allem durch Karl Philipp Moritz (1756 – 1793) formuliert worden. Ihr liegt die Idee zugrunde, dass Kunst nur ihren eigenen Gesetzen zu gehorchen hat und weder Wissenschaft, Moral oder Religion ihr „von außen“ Regeln vorschreiben dürfen. Verschärft führt dieser Gedanke dann zu der Annahme, es sei nicht nur unerlaubt, sondern sogar unmöglich, schöne Literatur durch andere Diskurse als sie selbst zu erfassen. Das Schöne, so schlussfolgert Moritz, darf nur durch sich selbst wahrgenommen werden, weil es nur für sich selbst da ist. Das bedeutet, dass jede Beschäftigung mit schönen Werken, die auf andere Darstellungsformen als das Werk selbst zurückgreift, dieses verfehlt. Bei Moritz heißt es: „Das Schöne will eben sowohl bloß um sein[er] selbst willen betrachtet und empfunden, als [auch] hervorgebracht seyn.“ (Moritz 2009, S. 58) Wo das Kunstwerk „den Endzweck und die Absicht seines Daseyns in sich selber hat“ (ebd. S. 59), da kann es jedenfalls nicht im Sinne der Kunst sein, dass man sie zu etwas Anderem gebraucht – wie z. B. zur wissenschaftlichen Analyse.
Sicherlich ist eine solche „autonomieästhetische“ Sichtweise auf Literatur unter den „gewöhnlichen“ Lesern, also in der breiten Öffentlichkeit, weit verbreitet. Man betrachtet Kunst und Literatur als etwas, über das man nicht wirklich streiten könne, weil jeder eine eigene Meinung dazu haben dürfe und auch jede Meinung irgendwie „richtig“ sei. In dieser Sichtweise ist der kompetente Literaturbenutzer immer derjenige, der die „ästhetische Erfahrung“ des Werkes gemacht hat, ohne zu glauben, dass diese intersubjektiv irgendwie vermittelbar oder gar überprüfbar wäre. Zwischen einer solchen, allein auf den „ästhetischen Genuss“ (vgl. Jauß 1997, S. 71 – 90) abzielenden Lektüre und der wissenschaftlichen Auffassung von Wesen und Funktion der Literatur klafft indes ein breiter Graben. Dieser Graben führt immer wieder dazu, dass Literaturwissenschaftler sich über das Desinteresse der Leserschaft für ihre Forschungsergebnisse
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beklagen und die Leserschaft das bunte Treiben der Literaturwissenschaft als elitäre, von ihrem Leseerleben abgewandte Veranstaltung begreift. Deshalb ist eine der wichtigsten Aufgaben, denen sich die Literaturwissenschaft zu stellen hat, die Vermittlung auch