wissenschaftlicher Revolutionen deshalb von „Paradigmen“ gesprochen und die Gesetze ihres historischen Wechsels untersucht. Dabei meint er mit Paradigma „die ganze Konstellation von Meinungen, Werten, Methoden usw., die von den Mitgliedern einer gegebenen Gemeinschaft geteilt werden.“ (Kuhn 1977, S. 389f.)
Wissenschaft basiert also in hohem Maße auf der Idee der Veränderlichkeit noch ihrer letzten und sichersten Grundannahmen; Umstürze in unserem Weltbild wie die durch Nikolaus Kopernikus oder Albert Einstein zeugen davon. Satirisch zugespitzt kommt dies in einem Ausspruch von Lichtenberg zum Vorschein: „Ich habe nun noch […] eine Theorie, die aber nicht mehr zu gebrauchen, denn sie ist vom vorigen Jahr.“ (Lichtenberg 1998, Bd. 3, S. 532). Das sollte man jedoch nicht nur negativ verstehen: Die Veränderlichkeit von Theorien sichert ihre Leistungsfähigkeit ab. Denn das Ideal jeder Wissenschaft ist in einem bestimmten Maß von der Idee des „Fortschritts“ abhängig. Theorien schließen an die Kette der schon bestehenden Theorien über ihren Gegenstand an, um aus deren Ergebnissen wie möglichen Fehlentwicklungen weiterführende und idealerweise genauere Gegenstandserkenntnisse zu erarbeiten. Die Klage über die Theorienvielfalt, die seit einigen Jahrzehnten in der Literaturwissenschaft geführt wird, hat eher damit zu tun, dass es hier kein evolutionäres Nacheinander von Theorien wie in den Naturwissenschaften gibt, sondern ein egalitäres Nebeneinander. Es scheint so, als habe eine geschichtsphilosophische Idee des 18. Jh. Eingang in die gegenwärtige Theorienlandschaft gefunden. Damals war man überzeugt, dass es einen echten Fortschritt und damit eine Überlegenheit der „Moderne“ gegenüber der „Antike“ nur auf dem Gebiet der Wissenschaften, nicht auf dem Gebiet der Künste geben könne, da in den Künsten die antiken Muster unübertrefflich seien, wohingegen die epistemische und technische Überlegenheit der Neuzeit nicht zu leugnen war (vgl. Jaumann 2007). Später hat sich diese Idee dahingehend gewandelt, dass man daraus einen Gegensatz von Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften machte, demzufolge es einen Fortschritt im Sinne einer „Überwindung“ vorhergehenden Wissens nur auf dem Gebiet der Naturwissenschaften, nicht für die Geisteswissenschaften gibt (vgl. Gadamer 1986, S. 288f. [268]).
[19]
Eine große Vielfalt konkurrierender Theorieprofile streitet sich heute auf diesem Feld darum, welches wohl die angemessenste Beschreibung des Gegenstandes „Literatur“ bereitstellt (Kap. 14.2). Inwiefern diese Pluralität von Paradigmen in der Literaturwissenschaft jedoch durch den Gegenstand bedingt ist oder nur eine Fehlentwicklung der Wissenschaftslandschaft darstellt, ist selbst eine theoretische, stark umkämpfte Frage. Die hier vorgeschlagene Tätigkeit einer „literarischen Ästhetik“ hat unter anderem den Vorteil, dass sie als Grundlagentheorie der Literatur den einzelnen Methoden vorgeschaltet sein soll. Sie entscheidet deshalb nicht, welche „richtig“ ist, sondern erarbeitet die vormethodischen Fragehorizonte des Gegenstandes, ohne jedoch ihre eigene Theoriehaftigkeit zu leugnen. Auf dem Gebiet des wissenschaftlichen Nachdenkens gibt es keine Alternative zur Theoriebildung: Man kann Theorien nur mit Theorien vergleichen, Theorien nur durch Theorien kritisieren (vgl. Neurath 1979). Das bedeutet aber keine Beliebigkeit oder willkürliche Freiheit, bloß den eigenen Einfällen und Launen zu folgen.
Denn Theoriebildung in der Wissenschaft steht unter drei unbedingten Forderungen: weitestmögliche Begründbarkeit – höchstmögliche Differenziertheit – umfassendste Systematizität (vgl. Hoyningen-Huene 2009). Ihre Ergebnisse müssen sich demnach vor der Gemeinschaft einer ganzen Wissenschaft („scientific community“) rechtfertigen können: ob sie auch den Gegenstand in all seinen inneren Unterscheidungen und Einzelheiten angemessen erfassen und ob sie das Netz der Gründe und Beziehungen, in dem er in der Welt steht, herausstellen. Deshalb lässt sich definitorisch festhalten: Theorie ist ein System von Sätzen, durch welches sich ein relativ kohärenter Frage-, Begriffs- und Urteilszusammenhang über seinen Objektbereich ergibt, das einen umfassenden Erklärungs- und Begründungsanspruch bezüglich dieses Objektbereiches erhebt und das bestimmten Anforderungen an Genauigkeit, Rationalität und Systematizität genügen muss.
Alle diese Bewegungen der Theoriebildung zielen demnach darauf, den Gegenstand nicht bloß isoliert für sich zu betrachten, sondern ihn in umfassender Weise, und das heißt stets im Ganzen seiner Bedingungen, Strukturen und Wirkungen zu begreifen. Die Theorie der Literatur macht da prinzipiell keine Ausnahme – und darf es auch nicht, will sie den Anspruch auf Wissenschaftlichkeit nicht ablegen müssen. Trotzdem
[20]
ist die Theoriefähigkeit der Literatur seit der bereits skizzierten Wende der „Autonomieästhetik“ im 18. Jh. stark umstritten. Es gibt auch heute eine eigene, durchaus anregende Theorie der Theorieunfähigkeit von Literatur, die sich durch verschiedene Methoden und Literaturtheorien zieht (Werkimmanente Methode, Diskursanalyse, Dekonstruktion). Die Leistung von Literatur liege demnach darin, als „Gegendiskurs“ (Foucault 1971, S. 76) gerade das rationalistische Ideal der Wissenschaft zu unterlaufen und damit die „letztlich nicht aufhebbare Differenz zwischen Literatur und Wissen“ (Geisenhanslüke 2003, S. 8) zum Ausdruck zu bringen. Diese für das Wissenschaftsverständnis der Literaturwissenschaft problematische Grunddifferenz, die besagt, dass sie ihren Gegenstand irgendwie auch immer schon verfehlt, findet sich auch in „Supertheorien“ wie der Systemtheorie wieder, für die „Literatur und Literaturwissenschaft […] wechselseitig Umwelt füreinander“ (Ort 2002, S. 202) und deshalb bis zu einem gewissen Grad einander unzugänglich sind. Diese Ansicht von Kunst und Literatur liegt in der Ursprungsgeschichte der Disziplin „Ästhetik“ begründet (Kap. 2). Sie kann insofern verallgemeinert und zu einem Grundpfeiler der Theorie von Literatur gemacht werden, als sie Literatur als etwas wesentlich Nicht-Selbstverständliches fasst. Damit aber qualifiziert sich Literatur sogar in besonderer Weise als theoriefähig, wenn man Theoriebildung als verstehende Erweiterung des Gegenstandes über sein bloßes Dasein hinaus begreift, wie oben skizziert wurde.
Denn Literatur ist zum einen das Nicht-Selbstverständliche, weil sie seit dem 18. Jh. durchgängig als Diskurs gefasst wird, der eingefahrene Verstehensmuster und Überzeugungen kritisch hinterfragt und gegebenenfalls auflöst. Literatur ist zum anderen das Nicht-Selbstverständliche, weil sie nicht völlig aus sich selbst heraus verstehbar ist (eine Gegenposition dazu ist neuerdings Mussil 2006): weil sie das Verständnis der historisch-epochalen Rahmenbedingungen ihrer Produktion benötigt, um vollends erfasst zu werden (Kap. 13.1). Literatur ist drittens das Nicht-Selbstverständliche, weil die Art und Weise, wie das einzelne Werk erscheint, stets die „Warum“-Frage an den Leser stellt: Warum bin ich so und nicht anders gestaltet? Aus welchem Grund verknüpfe ich die Elemente in dieser Weise und nicht in einer anderen, warum rede ich so von meinen Gegenständen und nicht anders? Für Kunstwerke ist näm-
[21]
lich die funktionale oder kausale Erklärung, die wir bei solchen Fragen in der Lebenswelt heranziehen würden, sinnlos oder wenigstens höchst unbefriedigend. Es mag richtig sein, die Form eines Hammers mit seiner besonders großen Schlagwirkung oder die Schärfe einer Speise mit der Vorliebe der Köchin für Gewürze zu erklären und das in Frage stehende Phänomen damit zu „verstehen“. Für literarische Werke ist jedoch wenig damit gewonnen, ihr Sosein aus den Bedingungen ihrer Entstehung oder ihres Zwecks heraus zu erklären: Man hat Goethes Wahlverwandtschaften weder verstanden, wenn man herausfindet, wozu ein solcher Roman alles gebraucht werden kann, noch dann, wenn einem klar ist, wie bestimmte Inhalte auf bestimmte Eigenschaften, Meinungen oder Absichten Goethes zurückzuführen sind. Im Kapitel zum „Verstehen“ und zur „Interpretation“ werden wir uns diesen Fragen genauer widmen. Festzuhalten bleibt: Literatur ist also in besonderer Weise theoriefähig, weil sie sich durch eine spezielle Grundspannung auszeichnet. Die ästhetische Erfahrung des literarischen Werkes beruht ganz wesentlich auf seinem individuellen Gestaltungszusammenhang und weist doch auch ständig über diesen hinaus.
Literatur zielt so von sich aus darauf, in größere historische Zusammenhänge gestellt zu werden („Systematizität“) und nach besonderen wie allgemeinen Gründen ihres So-Seins zu fragen („Rationalität“); dies aber stets im Dienst einer möglichst großen Differenziertheit, mit der jeder Einzelheit der Gestaltung des Werkes Aufmerksamkeit geschenkt werden soll („Genauigkeit“).