Karin Schleider

Lese- und Rechtschreibstörungen


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störungsunspezifische Psychodiagnostik (speziell zur Erfassung emotionaler und sozialer Folgen) schließen sich in Kapitel 5 an. Sodann werden Möglichkeiten der Prävention und Frühförderung aufgezeigt (Kapitel 6) sowie die gängigen Methoden der Intervention vorgestellt : Trainings- und Übungsmöglichkeiten für den schulischen und außerschulischen Bereich, Bewältigungs-, also Coping-Strategien, und schließlich Ansätze der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie. Abschließend erfolgt ein Überblick über sozialrechtliche und andere Hilfen für die Familien im Netzwerk psychosozialer Versorgung. Mit Befunden zu Prognose und Verlauf bis ins Erwachsenenalter (Kapitel 7) und einem Beispiel aus der pädagogischen und psychologischen Praxis zur Veranschaulichung (Kapitel 8) schließt dieses einführende Werk. Im Anhang finden sich, nicht zuletzt für Praktiker und Betroffene, hilfreiche Kontaktadressen sowie relevante Internetlinks.

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      Für ihre engagierte und sachkundige Mitarbeit bei den Kapiteln 4, 5 und 6 sei Frau Dipl.-Psych. Rita Selz auf das Allerherzlichste gedankt. Den weiteren Kolleginnen unserer Abteilung – Frau Dipl.-Päd. Marion Güntert und Frau Dr. Gisela Wolf wie der wissenschaftlichen Hilfskraft Frau Helene Veil – ein herzliches Dankeschön für ihre vielfältige Unterstützung. Besonderer Dank gilt der Lektorin Frau Dipl.-Psych. Vera Rahner für die sehr sorgfältige Bearbeitung des Manuskriptes.

      Karin Schleider

      Freiburg im Breisgau, Januar 2009

      Hauptteil

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      Problemstellung, historische Entwicklung der Begrifflichkeiten und heutiger Stand

      Seit Einführung der allgemeinen Schulpflicht wird von allen Bürgern erwartet, dass sie das Lesen und Schreiben gut beherrschen, um ihren Alltag meistern zu können. Damit kommt diesen beiden grundlegenden Kulturtechniken in unserer Gesellschaft eine zentrale Bedeutung zu. Wer nicht lesen oder schreiben kann, fällt auf und wird nicht selten diskriminiert. In Deutschland betrifft dies ca. 200.000 Grundschüler, die trotz eigener Bemühungen und Förderungen durch Lehrkräfte und Eltern erhebliche Probleme beim Erlernen des Lesens und Schreibens aufweisen (Schulte-Körne 2001a).

      Die verschiedenen Begriffe für dieses Phänomen – Legasthenie, Dyslexie, Lese-Rechtschreibschwäche, -schwierigkeiten, -störung – werden in der Praxis, aber auch in wissenschaftlichen Publikationen mitunter synonym benutzt und sind nicht eindeutig definiert (Günther 2002). Unterschiedliche ätiologische Konzepte und somit auch Auffassungen über Fördermaßnahmen führen zu Problemen in der Praxis wie in Forschung und Lehre (Kap. 4). Das vorliegende Kapitel zeichnet die Entwicklung der Begrifflichkeiten nach bis zum heutigen Stand.

      Historische Entwicklung

      Bereits Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts haben sich Schul-, Augenärzte und Neurologen mit dem Phänomen der Probleme beim Erlernen des Lesens und Schreibens beschäftigt. Dieses Phänomen wurde im Sinne einer umschriebenen Störung der Entwicklung betrachtet 11und nicht als allgemeine Entwicklungsstörung oder Intelligenzminderung, in der alle Leistungsbereiche betroffen sind (Warnke / Roth 2008). Die deutschen Ärzte Kussmaul und Berkhan, oder in England Kerr und Morgan etwa, prägten Ende des 19. Jahrhunderts den Begriff der Wortblindheit („word blindness“; Günther 2002); Berkhan stellt fest, dass

      „schwach Befähigte oder Halbidioten oft ein Schreibgebrechen zeigen, welches darin besteht, daß sie bei Dictaten in den niedergeschriebenen Worten einzelne Buchstaben weglassen oder durch andere ersetzen oder die Buchstaben verstellen, auch wohl neue hinzufügen, gerade wie es Stammelnde beim Sprechen tun“. (Berkhan zit. n. Warnke 1990)

      1916 führte der ungarische Arzt und Psychologe Ranschburg den Begriff Legasthenie (gr. „legein“ : lesen; „a-stheneia“: Nicht-Kraft oder Schwäche) in die deutschsprachige Forschung ein (Thomé 2004, 14) und definierte den Begriff als „nachhaltige Rückständigkeit höheren Grades in der geistigen Entwicklung des Kindes“ (Ranschburg 1928, zit. n. Günther 2002, 11). Die Legasthenie versteht er als „leichtere Form der Leseschwäche“, während die „eigentliche infantile Leseblindheit […] als schwerste Störung“ davon abgegrenzt wird. Dieser Definition liegt ein medizinisches Ätiologiekonzept zugrunde, das von einer krankhaften Veränderung im Kind anstatt von familiären oder schulischen Faktoren ausgeht.

      Mitte des 20. Jahrhunderts wurde die Legasthenie Thema der Psychologie. Die Schweizer Psychologin Linder ging von spezifischen hirnanatomischen und -physiologischen Abweichungen als Ursachen aus. Sie setzt erstmals eine Diskrepanz zur allgemeinen Intelligenz im Sinne einer allgemeinen kognitiven Leistungsfähigkeit voraus und schließt äußere Bedingungsfaktoren wie schlechten Unterricht, aber auch motivationale und emotionale Faktoren aus (Scheerer-Neumann 2002, 46):

      „Unter ‚Legasthenie‘ verstehen wir demnach eine spezielle und aus dem Rahmen der übrigen Leistungen fallende Schwäche im Erlernen des Lesens (und indirekt auch des orthographischen Schreibens) bei sonst intakter oder (im Verhältnis zur Lesefähigkeit) relativ guter Intelligenz. “ (Linder 1951, 100f, zit. n. Naegele/Valtin 1993, 18) Andere Formen wären dann solche, die „durch gewöhnlichen Schwachsinn, durch manifeste Gesichts- und Gehörstörungen oder sonstige körperliche Behinderungen erklärlich sind, oder aber durch mangelnde 12Übung infolge von Krankheit, Fehlen von Schule, Sprach-und Schulwechsel oder durch ungewöhnliche Schulumstände […] oder durch schlechte Schulmethoden oder offensichtlich gestörte Lehrer-Schüler-Beziehungen hervorgerufen wurden“ (Linder 1951, 100f, zit. n. Naegele/Valtin 1993, 18).

      In den 1970er Jahren gerieten diese Definitionen in die Kritik – zum einen aufgrund neuer Erkenntnisse zu Orthografietheorien und zum Schriftspracherwerb, zum anderen aufgrund der Auffassung, insbesondere bei pädagogischen Fachkräften, dass nicht nur intelligenten Kindern Fördermaßnahmen zugutekommen sollten. So wurde ein weiter gefasstes Konzept der Lese-Rechtschreibschwäche oder -schwierigkeit vorgeschlagen (Scheerer-Neumann 2002). Als ätiologische Bedingungen rückten negative Umwelteinflüsse oder innerpsychische Konflikte ins Zentrum der Betrachtung (Günther 2002). Malmquist und Valtin (1974) schlugen erstmals eine rein empirisch operationalisierte Definition auf der Grundlage messbarer Kriterien vor:

      „Wir bezeichnen Kinder mit einem Prozentrang von 15 und weniger in einem Lese- und/oder Rechtschreibtest als Legastheniker, wenn ihre Intelligenz mindestens durchschnittlich ist. Als mindestens durchschnittliche Intelligenz gilt ein IQ von 90 und darüber, wobei der Standardmessfehler zu berücksichtigen ist, so dass als untere IQ-Grenze etwa 85 anzusehen ist.“ (zit. n. DIFF 1974, 65)

      Für diese Zeit wird mitunter auch von einer „Legasthenie-Bewegung“ gesprochen: Lehrkräfte wurden zum Teil durch Fernstudienlehrgänge zu Legasthenietherapeuten ausgebildet. In Grundschulen gab es am Ende der zweiten Klasse einen Lese-Rechtschreibtest und für die betroffenen Kinder spezielle Förderkurse (Günther 2002). Ende des Jahrzehnts empfahl die Kultusministerkonferenz (KMK) sogar, den Begriff Legasthenie gänzlich aufzugeben und stattdessen von Kindern mit besonderen Schwierigkeiten beim Erlernen des Lesens und Rechtschreibens oder Kindern mit Lese-Rechtschreibschwierigkeiten (LRS) zu sprechen (KMK 1978). Die Lehrerausbildung war verstärkt auf die didaktischmethodische Qualität des Unterrichts zum Schriftspracherwerb ausgelegt (Valtin 2004; Günther 2002). Im Zuge dieser Entwicklungen verschwand in den 1980er Jahren der Begriff „Legasthenie“ aus der Fachliteratur und aus den Veröffentlichungen der Kultusministerien.

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      Seit den 1990er Jahren werden im Wesentlichen wieder zwei Begriffe unterschieden: die Lese-Rechtschreibstörung (Legasthenie) im engeren Sinne und die weiter gefasste Lese-Rechtschreibschwäche LRS (z. B. Scheerer-Neumann 2002).

      Heutiger Stand

      Drei Positionen kennzeichnen den heutigen Stand der Begriffsentwicklung:

      1. eine tendenziell psychologische oder medizinische Position,

      2. eine tendenziell pädagogische Position sowie

      3. eine tendenziell integrative Position der Differenzierung von Subgruppen.

      Ad (1): In aktuellen Publikationen der