der Moderne und mit der Pluralisierung der Lebenswelten ist es sicherlich nicht mehr so einfach, von den Lebensmitteln und der Art der Zubereitung sowie der Form des Verzehrs auf eine bestimmte soziale Schicht zu schließen, aber dennoch hat die Nahrungsaufnahme als Mittel der sozialen Distinktion gewiss nicht ausgedient (Bourdieu 1987; Andrews 2012; Kahma et al. 2016).
1.5 Kultur und Essstörungen
eigenes Leiden?
Auch wenn Essstörungen in aller Regel und überwiegend leidvoll sind, so sind sie zugleich ein Teil der Persönlichkeit des jeweiligen Individuums. Essstörungen sind identitätsstiftend. Die Betroffenen definieren sich über ihre Essstörung, grübeln darüber, warum ausgerechnet sie bulimisch oder adipös sind. Was aber, wenn auch bei Essstörungen die Kultur mit eine Rolle spielt? Wenn das vermeintlich Ureigenste, das individuelle Leiden auch gesellschaftliche Ursachen hat? Üblicherweise versteht man Essstörungen als Ergebnis von z. B. genetischen Besonderheiten oder als Ausdruck psychischer Konflikte oder als eine Art von Problembewältigung. Keine Frage, dass Essstörungen diesen Hintergrund haben können. Aber eine Essstörung ist auch etwas, was zunächst als Essstörung definiert sein muss.
Definition einer Störung
In aller Regel definiert in unserer Kultur der Ärztestand, was als Störung gilt und was nicht als Störung bezeichnet wird. Das bis zur Neuzeit in Europa übliche exzessive Trinken von Alkohol in der Gemeinschaft gilt heutzutage als Ausdruck einer Pathologie. Es gälte nicht als normal. Eine körperliche oder psychische Auffälligkeit wie übermäßiges Trinken bedarf deshalb stets einer in einer Kultur üblichen Definition, um den Status einer Störung oder Krankheit zu gewinnen (Freidson 1979).
variable Norm
Und diese Definitionen sind relativ variabel. Das bedeutet, dass einmal in einer bestimmten Epoche ein bestimmtes Maß an Übergewicht als Störung gilt, in einer anderen Epoche hingegen als gänzlich normal. Die Betroffenen werden in der Regel die Definition der Experten akzeptieren und sich das eine Mal als krank, das andere Mal als gesund begreifen. Wenn eine Gesellschaft dafür Verständnis hat, dass junge Frauen, um ihr Figurproblem zu lösen, nach den Mahlzeiten erbrechen, dann gibt es keine Bulimia nervosa als anerkanntes Krankheitsbild. Wenn wie noch vor hundert Jahren bei Carl von Noorden, einem der bekanntesten Adipositasforscher seiner Zeit, ein 1,75 m großer Mann an die 90 kg wiegen darf, ohne als übergewichtig oder adipös mit Krankheitswert eingestuft zu werden, dann ist dieser Mann offiziell nicht krank. Er fühlt sich wahrscheinlich auch nicht krank und macht sich keine Sorgen um seinen Gesundheitszustand. Er wird nicht bemüht sein, eine Diät zu beginnen. Er wird nicht darüber nachdenken, welche psychischen Probleme ihn in die Adipositas getrieben haben.
Idealgewicht
Wenn hingegen wie in den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts das Idealgewicht als gesundheitlich optimal angepriesen wird und alles Gewicht, das darüber liegt, als lebensverkürzend gilt, wenn sich zusätzlich das vorherrschende Schlankheitsideal der Frauen der Magersucht annähert, dann sind sozusagen von einem Tag auf den anderen große Bevölkerungskreise übergewichtig und adipös (s. Kasten 1.1).
Was ist das Idealgewicht? Es berechnet sich nach dem Broca-Normalgewicht, das früher der dominierende Gewichtsindex gewesen ist.
Broca-Normalgewicht = Körpergröße in cm minus 100
Das Idealgewicht ist dann: Broca-Normalgewicht minus 10 % für Männer und minus 15 % für Frauen.
Früher wurde angenommen, dass das Idealgewicht mit der höchsten Lebenserwartung einhergeht. Heute ist dies umstritten. Das Broca-Normalgewicht berechnet sich zwar einfach, aber es korreliert noch schlechter mit dem relativen Fettanteil am Gesamtkörpergewicht als der Body Mass Index, der weiter unten vorgestellt wird.
Kasten 1.1: Idealgewicht
Diese neue und sehr große Gruppe jetzt Übergewichtiger und Adipöser ist nun darum bemüht, das Gewicht zu reduzieren. Schließlich wird heutzutage Glück mit Schlankheit in Zusammenhang gebracht. Viken et al. (2005) konnten dies in einer Studie gut belegen, ebenfalls Swami et al. (2015) und Robertson et al. (2015).
Bilanz von Diäten
Gewicht zu reduzieren, gelingt aber nicht allzu häufig. Diäten und andere Formen der Gewichtsreduktion sind langfristig selten erfolgreich. Die um Gewichtsabnahme Bemühten sind angesichts der ausbleibenden Erfolge enttäuscht und essen angesichts der Vergeblichkeit ihrer Bemühungen potenziell mehr als davor. Diätversuche führen tendenziell zu allen Formen von Essstörungen, also auch zur Bulimia nervosa oder zur Anorexia nervosa (Howard/Porzelius 1999; Neumark-Sztainer et al. 2006; Liechty et al. 2013; Saunders et al. 2016).
Angesichts dieses Sachverhaltes ist es nicht unerheblich, dass jedes dritte Mädchen bis zu einem Alter von zehn Jahren über Diäterfahrungen verfügt (Bruns-Philipps/Dreesman 2004). Neumark-Sztainer et al. (2000) ermittelten, dass mehr als 50% der Bevölkerung versuchen, ihr Gewicht zu kontrollieren: 56,7% der erwachsenen Frauen, 50,3% der erwachsenen Männer, 44% der Mädchen und 36,8% der Jungen. Bublitz (2010) gibt für die US-Bevölkerung an, dass sogar 75 % der Frauen Diätversuche hinter sich haben.
In einer anderen Studie von Schur et al. (2000) wurde ermittelt, dass 50 % junger Kinder ihr Gewicht reduzieren wollen und 16 % dies bereits versucht haben. 77 % dieser Kinder berichteten von Familienmitgliedern, die über die Umstellung der Ernährungsgewohnheiten erzählt haben. Schur und Kollegen kommen deshalb zum Schluss, dass die Familie einen großen Einfluss auf das Ernährungsverhalten und dessen Umstellung hat.
Diätversuche in Eigenregie sind allerdings zu unterscheiden von professionell durchgeführten Gewichtsabnahmeprogrammen. Diese münden in der Regel nicht in Essstörungen (Buryn/Wadden 2005). Dagegen verursacht kontrolliertes Essverhalten als alltägliches kulturelles Muster vor allem von Mädchen und jungen Frauen Essstörungen (Austin 2001).
Der eben modellhaft beschriebene Teufelskreis könnte eine Erklärung dafür liefern, warum die Anzahl adipöser Personen zunimmt. Dieser Teufelkreis könnte allerdings auch anders ausgehen. Er kann in Anorexia nervosa oder Bulimia nervosa münden, also einmal in totaler Kontrolle der Essimpulse, das andere Mal in der Korrektur des übermäßigen Essens durch z. B. selbst induziertes Erbrechen. Festzuhalten bleibt, dass möglicherweise gesellschaftliche Einflüsse, nämlich die Setzung des Idealgewichts, dazu beigetragen haben, dass die Verbreitung der Adipositas und der Bulimia nervosa deutlich zugenommen hat.
Mit empirischen Studien kann diese Überlegung gut unterfüttert werden. Tiggeman und Slater (2004) führten 84 Frauen entweder Videoclips zu Popmusik mit dünnen Frauen vor oder Clips ohne diese. Bei der Gruppe, die die Clips mit dünnen attraktiven Frauen ansah, erhöhte sich die Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper. Die Frauen in dieser Gruppe begannen verstärkt, ihren Körper mit denen anderer Frauen zu vergleichen. Um diesen Effekt zu erreichen, reichte es aus, sechs Clips in der Länge von 15 Minuten anzuschauen. Die mediale Präsentation führt also zu einer Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper. Es ist anzunehmen, dass diese Unzufriedenheit teilweise mit Diätbemühungen beantwortet wird. Und dann ist der genannte Teufelskreis begonnen.
In einer Meta-Analyse bewerteten Groez et al. (2002) 25 experimentelle Studien, die den Einfluss medial vermittelter schlanker Körper auf die Zufriedenheit mit dem eigenen Körperbild untersuchten. Ergebnis war, dass das Darbieten schlanker Körper zu einer Zunahme der Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper führte (Quigg/Want 2011; Mulgrew et al. 2014; Rustemeier et al. 2015; Mannat et al. 2016; Naumann et al. 2016).
1.6 Soziale Lage und Gesundheit
Bezüglich des Zusammenhangs zwischen sozialer Lage und Gesundheit stimmen bestimmte Vorurteile nicht: Arbeitslose hätten ein entspanntes und gutes Leben, müssten nichts tun, lägen auf der faulen Haut und feierten. Wer arbeitslos ist oder von Sozialhilfe lebt, hat eine höhere Anfälligkeit für Erkrankungen