fassen: Wer nicht viel verdient, wer keinen hohen Bildungsabschluss hat, ist kränker und stirbt früher. Das ist seit vielen Jahren bekannt (Novak 1980; Siegrist 1995).
In einer schwedischen Studie konnten Gerdtham und Johannesson (2000) zeigen, dass junge Männer mit dem niedrigsten Einkommen eine Reduktion der Lebenserwartung um 4,1 Jahre haben, die ältesten in derselben Einkommensgruppe immerhin noch eine Verringerung um 2,1 Jahre. Bei den Frauen ist es ähnlich.
Besonders beunruhigend ist, dass sich bereits aus einem niedrigen sozioökonomischen Status in der Kindheit eine erhöhte Mortalitätsrate im Erwachsenenalter voraussagen lässt (Claussen et al. 2003).
Arbeit und Gesundheit
Niedriger sozioökonomischer Status ist häufig verbunden mit schlechten Arbeitsbedingungen. Gerade bei der Koronaren Herzkrankheit scheint es sich so zu verhalten, dass schlechte Arbeitsbedingungen deren Anstieg begünstigen (Marmot et al. 1997). Das Vorurteil, Personen in beruflich höheren Positionen stürben eher an Herz-Kreislauf-Erkrankungen, ist also nicht gültig. Jedenfalls heute nicht mehr, vor 50 Jahren war es kein Vorurteil.
Diese Tendenz, dass sozialer Status, Arbeitsbedingungen und Gesundheit miteinander positiv korrelieren, gilt selbst noch unter den Wohlhabenden und Gebildeten: Der Chefarzt lebt im Durchschnitt länger als der Oberarzt (Syme 1991). Vermutlich hängt dies damit zusammen, dass der Chefarzt mehr Entscheidungsspielräume hat als der Oberarzt. Doch der Unterschied zwischen der Lebenserwartung des Chef- und Oberarztes in einer Industrienation ist relativ klein – angesichts eines Blicks auf die gesamte Erde: Weltweit gibt es Unterschiede in der durchschnittlichen Lebenserwartung zwischen den Nationen von 48 Jahren. Und innerhalb eines Landes wie der USA differiert die durchschnittliche Lebenserwartung je nach sozialer Schichtzugehörigkeit um 20 Jahre (Marmot 2005). In Deutschland ist diese Differenz viel geringer, sie ist dennoch nach wie vor da (BZgA 2013; Lampert et al. 2013).
1.7 Soziale Lage und Ernährung
Lebensstil
Die Ernährungsweise ist Teil eines bestimmten Lebensstils und nicht abzukoppeln von anderen Merkmalen dieses Lebensstils oder eines bestimmten sozialen Status. Andere Merkmale wären nach Prahl und Setzwein (1999): Arbeits- und Wohnverhältnisse, Inanspruchnahme von Expertenhilfe, Risikoverhalten und Drogenkonsum. Was das Ernährungsverhalten betrifft, resümieren die eben genannten Autoren, dass sich die unteren sozialen Schichten hinsichtlich dessen, was heute als gesunde Kost definiert wird, schlechter ernähren als die oberen sozialen Schichten. Die oberen sozialen Schichten essen
abwechslungsreicher,
mehr proteinreiche Produkte wie Milch und Joghurt,
viel Obst,
und sie achten mehr auf ihr Gewicht.
In den unteren Schichten isst man eher
Butter,
Zucker,
Weißbrot,
Fleisch,
Wurstwaren.
In einer Überblicksstudie, die sich auf den Konsum von Obst und Gemüse in Europa bezieht, kommen Roos et al. (2000) zu folgendem Schluss: Es gibt eine zentrale Tendenz, wonach mit steigendem Bildungsniveau auch der Verbrauch von Obst und Gemüse ansteigt. Leonhäuser und Lehmkühler (2002) kommen zu einem ähnlichen Ergebnis: In armen Haushalten wird wenig Milch, Milchprodukte, Obst und Gemüse verzehrt. Lawrence et al. (2009) machen darauf aufmerksam, dass sich schwangere Frauen mit einem geringeren sozioökonomischen Status ungesünder ernähren als die mit einem höheren.
Wenig Geld zur Verfügung zu haben, bedeutet nicht nur, weniger Handlungsspielräume beim Einkaufen zu haben, es ist auch verbunden mit geringen Fähigkeiten und Fertigkeiten zur Nahrungszubereitung und mit geringem Wissen über gesunde Ernährung. Zudem darf nicht vergessen werden, dass in armen Haushalten Gesundheit als Wert und Ziel nicht an der ersten Stelle der Wert- und Zielhierarchie steht (Lehmkühler 2002).
materielle vs. soziale Armut
Prahl und Setzwein (1999) unterscheiden in diesem Zusammenhang zwischen materieller und sozialer Ernährungsarmut: „Materiell“ bedeutet, dass man tatsächlich nicht genug zum Essen hat. „Sozial“ soll veranschaulichen, dass zwar genug Geld da ist, um sich nach ernährungsphysiologischen Gesichtspunkten hinreichend gut zu versorgen, dass aber bestimmte kulturelle Standards nicht eingehalten werden können. Man kann es sich z.B. nicht leisten, essen zu gehen. Man kann keine Einladungen aussprechen.
Robertson (2001) macht darauf aufmerksam, dass die Kluft zwischen arm und reich nicht kleiner wird, sondern die soziale Ungleichheit zunimmt. In ganz Europa können sich Menschen mit geringem Einkommen nicht (mehr) gesund ernähren. Dies gilt vor allem für Kinder, Jugendliche, schwangere und stillende Frauen sowie für ältere Menschen. Soziale Ungleichheit zeigt sich auch im Vergleich europäischer Länder: Der prozentuale Anteil des verfügbaren Einkommens, der für Lebensmittel ausgegeben wird, liegt in Rumänien bei 60 %, in Polen bei 40 %. In der EU verbraucht man dagegen im Durchschnitt nur 22 % für Lebensmittel. Aber auch in den reichen EU-Ländern wird die Kluft zwischen arm und reich größer, so etwa in Großbritannien.
Tab. 1.1: Gesunde Ernährung in armen Haushalten (Köhler/Feichtinger 1998, zit. nach Leonhäuser/Lehmkühler 2002, 23)
Dimensionen | Funktionen | Probleme in Armutssituationen |
physiologisch | Versorgung mit Energie und Nährstoffen | Beeinträchtigungen der geistigen und körperlichen Leistungsfähigkeit |
sozial | soziale Organisation, Integration und Abgrenzung, soziale Sicherheit, Kommunikation | Beeinträchtigungen sozialer Beziehungen (z. B. wenn Einladungen nicht erwidert werden können) |
kulturell | normative Wertsysteme, Ernährungssitten und -gebräuche, Essbarkeit, Geschmack | Abweichung von gesellschaftlich akzeptierten Ernährungsweisen (z. B. Braten statt Hackfleisch als „unangebrachter Luxus“) |
psychisch | Genuss, emotionale Sicherheit, Kompensation, Selbstwertgefühl | Verlust von Selbstbestätigung, überkompensierende bis bizarre Bewältigungsstrategien (z. B. „Leistungshungern“ oder Hamstern) |
Begleitdimension | ||
ökonomisch | für Ernährung verfügbares Einkommen als ökonomische und soziokulturelle Zugangsberechtigung | Beeinträchtigung des Marktzugangs, der Teilhabe am Konsum, der Nahrungsversorgung |
zeitlich | Auswirkung von Häufigkeit und Dauer bestimmter Ernährungssituationen im Zeitverlauf | gesundheitliche und psychosoziale Spätfolgen (z. B. lebenslange Sensitivität gegen Nahrungsbeschränkung) |
Dass sich an dem Zusammenhang zwischen sozialer Lebenslage und Ernährung wenig geändert hat, macht der „12. Ernährungsbericht“ der DGE (2012) deutlich (vgl. auch Mensink et al. 2013).
1.8 Sozialisation und Ernährungsverhalten
Hurrelmann