Gottfried Willems

Geschichte der deutschen Literatur Band 4


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als auch immer weiterer Bereiche des gesellschaftlichen Lebens, einschließlich [<<24] der Literatur. Politik ist nun nicht mehr allein die Sache einer winzigen Elite, des Adels, der „Standespersonen“, der politischen Beamten; sie wird mehr und mehr zu jedermanns Sache. Ein jeder fühlt sich nun „immer mitten in der Agitation der politischen Leidenschaften inne leben“ (GS 2, 71).

      Das ist vor allem ein Werk der Presse, die im 19. Jahrhundert einen gewaltigen Aufschwung erlebt. Es entstehen immer neue „Journale“, immer neue Tageszeitungen, wie sie bis heute nicht aus dem politischen Leben wegzudenken sind, und sie werden von immer mehr Menschen gelesen. Die moderne Öffentlichkeit nimmt nun endgültig eine Form an, wie wir sie kennen. Der Journalist betritt die Bühne der Geschichte, um sie nicht wieder zu verlassen, und er avanciert rasch zu einer Leitfigur des modernen Lebens. Auch viele Autoren von Literatur haben zumindest zeitweise als Journalisten gearbeitet, denn von der Literatur allein konnten die meisten von ihnen im 19. Jahrhundert noch immer nicht leben. Vor allem die Autoren des Vormärz haben sich als Journalisten versucht – man denke nur an Heine und Gutzkow – aber auch unter den Realisten haben viele noch ihr Brot mit Arbeiten für die Presse verdient, so etwa Fontane.

      Politisierung und Modernisierung

      Der tiefere Grund für die fortschreitende Politisierung der Menschen und des gesellschaftlichen Lebens ist natürlich die Modernisierung. Schon an der Schwelle zum 19. Jahrhundert hat einer ihrer engagierten Vorkämpfer, einer der größten Mobilmacher, den die Menschheit bis dahin gesehen hatte, der französische Kaiser Napoleon, den Ausspruch getan: „Die Politik ist das Schicksal“, und so ist es auch überall gekommen, wo sich die Modernisierungsmaschine in Gang gesetzt hat. Der Fortschritt, die unausgesetzte Mobilisierung von Menschen und Dingen, natürlichen und kulturellen Ressourcen, der große Verschiebebahnhof der Moderne verlangt nach Organisation und Steuerung, und er verlangt nach ihnen in einem Maße, das alles in den Schatten stellt, was die Menschheit zuvor an Organisations- und Steuerungsbedarf erlebt hat. Die Folgen zeigen sich zum einen im Anschwellen der Verwaltungsapparate – das 19. Jahrhundert ist auch die Zeit eines exponentiellen Wachstums der Bürokratie – und zum andern eben in der Politisierung. Denn Politik ist ja nichts anderes als die Gesamtheit der Diskurse, mit denen eine Gesellschaft die Prozesse zu steuern versucht, in denen sie sich organisiert. [<<25]

      Was es mit alledem auf sich hat, hatte sich in der Zeit der Revolution von 1789 mit aller wünschenswerten Deutlichkeit gezeigt. Da trat mit einem Schlag das ganze Panorama der modernen Politik vor die staunenden Augen der Welt: das große Forum des Parlaments, das Drama der Wahlen, die Parteipolitik, die kritische Begleitmusik der Presse, die professionelle Bearbeitung der Öffentlichkeit, die Typen des Berufspolitikers, des Politingenieurs und des politischen Journalisten. Politik wurde hier für alle sichtbar zum parteipolitischen Kampf zwischen Modernisierern und Modernisierungsgegnern, zwischen Erneuerern und Bewahrern, und hier wiederum zwischen radikalen und moderaten Erneuerern – Revolutionären und Reformern – und zwischen moderaten und radikalen Bewahrern – Konservativen und Reaktionären. Hier entstanden übrigens auch die Begriffe von „linker“ und „rechter“ Politik, abgeleitet von der Sitzordnung der Französischen Nationalversammlung.

      Das Wechselspiel von Revolution und Restauration

      Seinen deutlichsten Ausdruck fand der politische Kampf um den Fortschritt aber eben im Wechselspiel der Revolutionen und der Restaurationsversuche. So bezeichnen Revolutionen die wichtigsten Daten im politischen Leben des 19. Jahrhunderts. Die erste in der langen Reihe ist die Französische Revolution von 1789, eine Revolution, die auch für Deutschland die größten Folgen gehabt hat, obwohl es hier nur in einem einzigen Fall zur Gründung einer Republik gekommen ist, in Mainz, und im übrigen allenfalls zu Reformen wie zur Abwicklung des „Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation“ und zu den inneren Reformen in Preußen und einigen anderen deutschen Fürstenstaaten. Die Epoche der Französischen Revolution ging mit dem Wiener Kongreß von 1814/15 zu Ende, der eine Wiederherstellung der alten Mächte Monarchie, Adel und Kirche brachte, die sogenannte Restauration von Thron und Altar. Auf dem Boden des Alten Reichs ließ er die Verhältnisse entstehen, die ihre Kritiker nach dem führenden Staatsmann Österreichs, dem Fürsten Clemens von Metternich (1773–1859), das System Metternich nannten.

      Das Ziel Metternichs und seiner Mitstreiter war es, den Geist, der 1789 aus der Flasche gefahren war, wieder in die Flasche zurückzupraktizieren, und sie scheuten dabei kein Mittel der Gewalt. Spätestens seit den Karlsbader Beschlüssen der deutschen Fürsten von 1819 gab es überall in Deutschland das, was man Demagogenverfolgung nannte, [<<26] gab es eine staatliche Zensur, ein ausgedehntes Spitzelwesen und die ganze Palette repressiver polizeilicher Maßnahmen, wenn sich auch nicht alle Fürstenstaaten mit der gleichen Intensität daran beteiligten. Davon war auch die Literatur betroffen, denn gerade die Literaten hörten nicht auf, die Ziele der Französischen Revolution – „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ – und die Ziele der sogenannten Befreiungskriege von 1813/15 – „Einigkeit und Recht und Freiheit für das deutsche Vaterland“ – zu bereden, zu besingen und überhaupt in jeder erdenklichen Form präsent zu halten.

      Aber der Geist des Fortschritts ließ sich nicht wieder in die Flasche zurückzwingen. Auch politisch war er weiter am Werk, nicht nur in der Literatur, so zum Beispiel in der Verfassungsbewegung, also im Ringen darum, daß sich die Fürstenstaaten Verfassungen gäben, die gewählte Parlamente vorsähen. Die Wahlen, an die man dabei dachte, waren allerdings noch keine „freien, gleichen und geheimen Wahlen“, wie wir sie kennen; nur ein kleiner Kreis wohlhabender Bürger sollte an ihnen teilnehmen können, insofern das Wahlrecht an einen „Zensus“, an Besitz und Einkommen geknüpft blieb.

      Bereits 1830 kam es zu einer zweiten Revolution, der sogenannten Juli-Revolution, die freilich nur in ihrem Ursprungsland Frankreich zu einer Veränderung der politischen Verhältnisse führte; in Deutschland blieb die Unruhe überschaubar. Dafür war die Reaktion der Machthaber um so heftiger; die Zügel der „Demagogenverfolgung“, der Zensur und Repression wurden weiter angezogen, so daß viele namhafte Literaten wie Heinrich Heine und Ludwig Börne (1786–1837) nach Paris ins Exil gingen. Denn in Frankreich hatte die Juli-Revolution in der Tat ein Mehr an Freiheit gebracht, eine Stärkung des Parlaments unter dem neuen König, dem „Bürgerkönig“ Louis Philippe, und vor allem ein Mehr an Pressefreiheit.

      Das dritte große Revolutionsjahr ist das Jahr 1848, das Jahr der März-Revolution. Wiederum ging die Revolution von Frankreich aus, aber sie erfaßte nun auch weite Teile Deutschlands, und sie brachte endlich die von den Liberalen ersehnten Wahlen. Das Parlament, das aus ihnen hervorging, das berühmte Parlament in der Frankfurter Paulskirche, hat sich aber nicht auf Dauer etablieren können und seine Macht bald wieder verloren. Frankreich wurde zunächst zum zweiten Mal eine Republik, um sich 1852 erneut in ein Kaiserreich [<<27] zu verwandeln, mit einem Neffen Napoleons, Napoleon III., an der Spitze. Dieses wurde 1871, nach dem verlorenen Krieg gegen Deutschland, zum Schauplatz einer vierten Revolution und überdies auch des Aufstands der Pariser Kommune, einer Revolution in der Revolution, bei der man erstmals mit dem Kommunismus Ernst zu machen suchte. Deutschland hingegen mußte bis 1918 auf die nächste Revolution warten.

      Deutschland und Europa

      Der Blick auf das Wechselspiel von Revolution und Restauration zeigt, daß man, wenn man von der politischen Geschichte Deutschlands im 19. Jahrhundert spricht, immer auch an Frankreich denken muß. Denn das politisch bewegte Deutschland schaute auf Frankreich, so wie das ökonomisch interessierte nach England, dem Land der industriellen Revolution und des Kapitalismus. Das künstlerische Deutschland zog übrigens weithin noch immer eine andere Orientierung als die nach Westen vor; es blickte – wie all die Jahrhunderte zuvor seit den Zeiten der Renaissance – nach dem Süden, nach Italien, dem Land, auf dessen „klassischem Boden“ (Goethe) man die Antike und deren künstlerisches Erbe studieren konnte. Italienreisen blieben auch im 19. Jahrhundert noch ein fester Programmpunkt in der Ausbildung des Künstlers.

      Allerdings kamen nun immer mehr Reisen nach Frankreich und England hinzu, freiwillige Reisen ebensowohl wie politisch erzwungene, und das waren eben keine Reisen zur Antike mehr, sondern Reisen in die Moderne. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts, mit dem Durchbruch der ästhetischen Moderne im engeren Sinne, wird Paris schließlich vollends zur Hauptstadt