Dirk Linowski

Herausforderungen der Wirtschaftspolitik


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ist – d.h., immer weniger Junge müssen immer mehr Alte finanzieren – wurde und wird es immer wieder reformiert. Die derzeit prominentesten Beispiele sind die stufenweise Anhebung der Regelaltersgrenze auf 67 Jahre bis zum Jahr 2029 und die Ausweitung der Versteuerungspflicht auf die gesamte Rente ab 2040. Bereits 2002 hatte das Bundesverfassungsgericht die fehlende Rentenbesteuerung für verfassungswidrig erklärt. Wer 2020 in Rente ging, muss 80% davon versteuern. Das Niveau der gesetzlichen Altersrente wird ferner von 51% im Jahr 2015 auf voraussichtlich 44,9% des durchschnittlichen Nettolohns bis zum Jahr 2030 gesenkt.[41] Damit verbunden ist die Aufforderung der Bundesregierung an die Bevölkerung, eigenverantwortlich für das Alter vorzusorgen. Langfristig soll die private Vorsorge als Ausgleich zur schrumpfenden Säule 1 an Bedeutung gewinnen; deshalb wird sie (Stichworte Riester- und Rüruprente) vom deutschen Staat gefördert.

      „Richtig“ privat vorsorgen ist indes leichter gesagt als getan. Sowohl Investitionen in Aktien als auch in Immobilien können ihre Tücken haben. Schwer verkäufliche Immobilien in strukturschwachen Gebieten können sich – leicht einsichtig – als Fluch erweisen, und die Aussage, dass Aktien langfristig die beste Geldanlage seien, wird durch Wiederholung in ihrer Pauschalität nicht richtiger. Als warnendes Beispiel sei hier eine Grafik des japanischen Leitindex Nikkei225 von 1981–2020 angegeben.

      Abb. 3.1:

      Nikkei225, 1985–2020 (Eigene Darstellung: Daten von Refinitiv)

      Wenn Sie einen kurzen Blick auf Abb. 3.1 werfen, werden Sie ohne großes „Rumrechnen“ schnell feststellen, dass Sie einen großen Teil Ihres Vermögens verloren hätten, wenn Sie um 1990 herum angefangen hätten, Ihr Geld in japanische Standardaktien, d.h. also in weltbekannte Firmen wie Mitsubishi, Sony, Canon, Toyota usw., zu investieren. Hier nützte es Ihnen auch nur wenig, zu wissen, dass der Nikkei225 Ende des Jahres 2020 wieder bei ca. 27.500 Punkten stand. Der Argumentation, dass Aktien langfristig die beste Geldanlage seien, sollten Sie nun – wenn dies nicht bereits der Fall war – etwas kritischer gegenüberstehen. Langfristig sind wir, um ein Bonmot von John Maynard Keynes zu zitieren, alle tot.1

      Damit hier kein Missverständnis entsteht: Dies ist kein Plädoyer gegen Aktien! Es bietet sich allerdings zumeist eine „vernünftige Diversifizierung“ in verschiedene risikobehaftete Assetklassen an. Da aber die aggregierte Wertentwicklung fast aller Assetklassen langfristig positiv korreliert ist, wird den meisten Menschen in Zukunft vermutlich nicht viel anderes übrig bleiben, als lange zu arbeiten, wenn ein gewisser Lebensstandard gewahrt werden soll.

      Bemerkung:

      Hier sei wiederum angemerkt, dass – und dies ist seit Langem bekannt – ein beträchtlicher Teil der deutschen Bevölkerung (Stichwort Niedriglohnsektor) die Möglichkeit, substanziell für das Alter zu sparen, nicht hat. Es wird also eine gesellschaftliche Aufgabe bleiben müssen, heutigen Geringverdienern ein materiell würdiges Leben im Alter zu ermöglichen. Dies ist kein „Jammern“ über den Niedriglohnsektor; schlecht bezahlte Arbeit ist in fast jeder Hinsicht für die Gesellschaft und auch die Betroffenen besser als keine Arbeit. Dennoch lohnt sich ein Blick in die Schweiz, die auch ein anderes Demokratiemodell praktiziert als Deutschland, wie dort mit gering qualifizierter Arbeit und deren Vergütung umgegangen wird.

      Diversifikation

      Grundsätzlich ist es sinnvoll, Vermögen in unterschiedliche Assets, deren Renditeverteilungen bei positiven erwarteten Renditen möglichst gering korreliert sind, aufzuteilen. Hier bieten sich zur Bestimmung der Anteile des zu investierenden Vermögens u.a. die naive Diversifizierung (in jede Anlage wird der gleiche Prozentsatz des Vermögens investiert) oder auch die Anwendung der Markowitztheorie an, bei der üblicherweise eine minimale Zielrendite vorgegeben wird und im Anschluss die prozentualen Beiträge der einzelnen Assets zur Ermittlung des korrespondierenden varianzminimalen Portfolios berechnet werden. Beide Ansätze haben indes Grenzen, insbesondere wenn nicht teilbare „teure“ Assets wie Immobilien Bestandteile des Portfolios sind. Und wenn es weltweit crasht, dann crasht es weltweit, d.h., der Diversifizierungsnutzen, der aus der Korrelationsstruktur der unterschiedlichen Anlagen in „Normalzeiten“ gewonnen wurde, wird deutlich reduziert.

      Einordnung und Ausblick

      Deutschland (und Europa) wird älter, es werden nicht genug Kinder geboren, um den biologischen Bestand der europäischen Nationen „aus eigener Kraft“ dauerhaft auf dem aktuellen Niveau zu erhalten. Besonders hart betroffen sind ländliche Räume in fast allen europäischen Staaten und in ihrer Gesamtheit die ärmeren Staaten am geografischen Rande der EU.

      Mittelfristig werden die Staaten nicht alle ihnen heute obliegenden Aufgaben (Straßenbau bzw. -instandhaltung, wohnortsnahe Kindergärten und Schulen, Krankenversorgung, etc.) flächendeckend aufrechterhalten können. Spiegelbildlich stieg – jedenfalls vor Ausbruch der Corona-Pandemie – der Preisdruck auf den Wohnungsmärkten in den Ballungsgebieten und sank die Werthaltigkeit von Wohnimmobilien in vielen ländlichen und kleinstädtischen Regionen.

      Der mittel- und langfristige Erfolg von Zuwanderung hängt von deren Komposition sowie von staatlichen und privaten Anstrengungen ab, Zuwanderer in die Gesellschaft zu integrieren, d.h. insbesondere, sie in bezahlte (bzw. gut genug bezahlte, um davon anständig leben zu können) Beschäftigungsverhältnisse zu bringen.

      Exkurs: Das Bruttoinlandsprodukt

      Erste Versuche, das nationale Einkommen zu schätzen, gehen auf das 17. Jahrhundert in England zurück: William Petty und Gregory King legten die Grundsteine für die Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung (VGR).

      Das bei Weitem bedeutendste Maß für die Stärke einer Volkswirtschaft ist das Bruttoinlandsprodukt, dem wir bereits im Exkurs zur Statistik am Ende von Kapitel 2 begegnet sind. Grob gesagt handelt es sich beim BIP um den in Geld gemessenen Wert aller Güter und Dienstleistungen, die in einem Jahr innerhalb eines Staatsgebietes erwirtschaftet werden. Es wird also gemessen, was in Geld bezahlt wurde und was besteuert wurde. Lebensqualität, die durch Nachbarschaftshilfe, Haushalts- und Kindererziehungsarbeit gewonnen wird sowie Elemente der Schattenwirtschaft gehören nicht dazu.

      Das BIP kann über drei verschiedene Wege ermittelt werden: In der Entstehungsrechnung wird die Wertschöpfung aller Produzenten als Differenz zwischen dem Wert der produzierten Waren und Dienstleistungen und dem Vorleistungsverbrauch berechnet, wobei die Gütersteuern hinzugefügt und die Gütersubventionen abgezogen werden. Die Verwendungsrechnung ermittelt das BIP als Summe aus privatem und staatlichem Konsum, Investitionen und Außenbeitrag. Bei der Verteilungsrechnung wird das BIP aus der Summe der Arbeitnehmerentgelte, der Unternehmensgewinne und der Vermögenserträge in der Volkswirtschaft berechnet.

      Rechnungswesen ist nicht neutral, es „lässt sich den Zwecken einer Organisation entsprechend formen, was wiederum Einfluss auf die weitere Entwicklung dieser Organisation nehmen kann.“ (Mazzucato, S. 111) Dies können Sie sich verdeutlichen, indem Sie auf Betriebsebene die Grundprinzipien des HGB und diejenigen der amerikanischen Rechnungslegung IFRS gegenüberstellen. Ebenso ist es nicht zeitinvariant. Historisch interessant ist vor allem die Entwicklung der Produktionsgrenze. Der französische Nationalökonom (den Begriff Volkswirt gab es damals noch nicht) Quesnay betrachtete im 18. Jahrhundert zum Beispiel die Landwirtschaft, Fischerei, Jagd und den Bergbau als produktiv, die Haushalte, den Staat und sogar die Industrie hingegen nicht. So wird verständlich, dass der Begriff des Wachstums in der Ökonomie erst im frühen 19. Jahrhundert dauerhaft auftauchte, da Kapital theoretisch unbegrenzt wachsen kann, Boden, der bis dato wichtigste Produktionsfaktor, hingegen naturgemäß beschränkt ist. Die wichtigste Änderung in der VGR fand schließlich in den 1970er Jahren statt, in denen übrigens auch der Goldstandard beerdigt wurde. Erst vor weniger als 50 Jahren wurde begonnen, den Finanzsektor in die Berechnung des BIPs miteinzubeziehen. Davor wurde das Finanzwesen nur als Transformationssektor, der nicht produktiv war, betrachtet.

      Beim BIP handelt es sich kurz gesagt um eine „in Entwicklung begriffene gesellschaftliche Konvention [..], die sich