„Verdichtungen von Abläufen, die sich im Sinne einer komprimierten, kollektiven und symbolischen Handlung wiederholen […] Sie stellen damit eine machtvolle nichtverbale Sprachform dar.“ (von Schlippe/Schweitzer 1996, 191)
In der Musik finden wir dieses Phänomen, indem starke emotionale Impulse aufsteigen, die sich zunächst in spontanen Lautäußerungen akustisch manifestieren und sich dann mehr und mehr formen und strukturieren.
polynesische
Totenklage
Die Totenklage einer Frau aus Polynesien beispielsweise begann damit, dass eine Frau an der Bahre eines nahen Verwandten weinte, woraus schließlich ein improvisierter Klagegesang wurde.
„Ihre Stimme wird immer wieder von Schluchzern geschüttelt, aber sie singt immer weiter. Der Schmerz überwältigt sie nicht, da sie ihm eine Form geben kann, zum Beispiel über den Rhythmus. Der Atem ist die Phrasierung und die Trauer ihrer Seele der Inhalt des Liedes. Andere Frauen stimmen ein, auch sie sehr ergriffen, dann endet das Schluchzen allmählich, der Gesang wird ruhiger und klingt aus.“ (zit. n. Engert-Timmermann 1992, 6)
Die Klage ist anthropologisches Grundbedürfnis, das sich nicht nur in ethnischen Kulturen ihren Weg bahnt. Auch in einer musiktherapeutischen Gruppe erlebte ich, wie eine Frau in einer Sitzung von einem tiefen Schmerz erfasst wurde und sehr heftig weinen musste. Schließlich bat sie die anderen Gruppenmitglieder, mit ihr zu „jammern“, und ließ das Weinen in lauten, langen Tönen zu, ähnlich wie Kinder es manchmal tun. Andere Gruppenmitglieder stimmten allmählich ein, und aus dem Jammern wurde nach und nach eine Stimmimprovisation, die schließlich ruhig und heiter ausklang.
„gemeinsames
Jammern“ in der
Musiktherapie
Diese lebendige Interaktion zwischen dem Einzelnen und der Gruppe ist improvisiert. Sie entsteht spontan, und dennoch sind die entstehenden musikalischen Formen nicht beliebig – sie bilden sich nach uralten inneren Gesetzmäßigkeiten. Auch die äußere Regelhaftigkeit des lebendigen Rituals entspricht dem inneren Gesetz. Es muss immer wieder neu belebt und lebendig erfahren werden, damit es wirkt. Im Prinzip ist es nicht an Kulturen gebunden, sondern an die Wirklichkeit des Menschen überhaupt.
Bei der Beschreibung der psychotherapeutischen Technik des Stützens (s. Kap. 6) wird darauf hingewiesen, dass die Rekrutierung von „Helfern“ aus der Gruppe an alte rituelle Traditionen anknüpft.
Eine hierzu passende musiktherapeutische Gruppenszene war, dass eine Frau für ihr abgetriebenes Kind eine Musik improvisieren wollte und es nicht alleine schaffte. Als sie darum bat, stimmte die ganze Gruppe mit Instrumenten und Stimme ein und stärkte sie so, dass sie es dann doch tun konnte. Dies erleichterte sie sehr.
„Musik für Ungeborenes“
Durch die Beschäftigung mit anthropologischen und ethnologischen Phänomenen gelangt man somit zu bio-psycho-sozialen Grundkonstanten, die in der modernen Psychotherapie berücksichtigt werden und damit in spezifischer Weise auch in der Musiktherapie.
Orff’sches Instrumentarium
Carl Orff entwickelte sein Orff’sches Instrumentarium aus ethnischen Instrumenten, die er an die europäische Musiktradition (vor allem bezüglich der Stimmung) anpasste. Die Arbeit mit original ethnischen Instrumenten und ihren besonderen Möglichkeiten und Wirkungsweisen wurde in den 80ern des 20. Jh. entwickelt und immer weiter spezifiziert (s. Strobel/Timmermann 1991; Strobel 1999; Hess 2002). Die Altorientalische Musiktherapie beruft sich explizit auf eine ethnische Tradition (Tucek 1997).
Ansonsten gibt es keinen direkten methodischen Weg vom schamanischen Heilritual zur modernen Musiktherapie, sondern verschiedene geistige und praktische Wurzeln. Hier finden wir hinter uns und um uns herum eine ganze Reihe von Vorgängern, die auch motiviert waren, Menschen zu heilen und dabei in irgendeiner Form Musik als Medium einzusetzen.
Suppan, W. (1984): Der musizierende Mensch. Eine Anthropologie der Musik. Schott, Mainz
Timmermann, T. (1994): Die Musik des Menschen. Gesundheit und Entfaltung durch eine menschennahe Kultur. Piper, München
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