Tonius Timmermann

Lehrbuch Musiktherapie


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wenn wir Musik hören?“

      (Peter Sloterdijk)

      Wir sprechen von aktiver Musiktherapie, wenn die Klienten und Patienten selbst musizieren. Es wäre also zu erwarten, dass man das Hören von Musik im therapeutischen Kontext als „passive“ Musiktherapie bezeichnet. Dem ist aber nicht so. Es wäre auch unpassend, da Musikhören alles andere als ein passiver Vorgang ist. Unsere Beteiligung beim Hören, beim Rezipieren, d. h. Aufnehmen, Empfangen von Musik, was wir „hineinhören“, was es an inneren Prozessen zum Arbeiten bringt, das ist in der Summe alles andere als rein passiver Genuss. Diese Eigenbeteiligung ist es ja auch, die die Rezeptionsforschung so hochkomplex macht, wenn sie die Objektivierung von Wirkung im Bereich der Musik im Blickpunkt hat (s. Kap. 3).

      Wer sich auf einem Blatt Papier eine der eigenen Biografie entsprechende Lebensalterskala aufzeichnet und dann sammelt, was er/sie zu welcher Zeit in seinem Leben für Musik gehört und wie diese mit welchen schicksalhaften Prozessen und Ereignissen verbunden ist, wird vielleicht besser verstehen, warum welche Musik ihn/sie beim Hören in welche Zustände zu versetzen vermag (s. a. Muthesius 1997 und Kap. 21.2).

      Musik und

      Biografie

      Hinzu kommt, dass das Hören unsere früheste intrauterine Sinneswahrnehmung ist und an der Basis der Persönlichkeit existenziell, vertraut, bedrohlich, beeindruckend usw. erlebt wird. Daher können auch tiefe, frühe Schichten der menschlichen Persönlichkeit beim Hören in therapeutischen Kontexten aktiviert werden. Decker-Voigt spricht in Anlehnung an Spitz von einer „Musik der Außenwelt“ (1993, 118 ff.). Auch im frühen Dialog konstatiert er, dass alle Signale und Reize im Hin und Her zwischen Mutter und Kind identisch sind mit den Elementen dieser Musik. Kommunikative Signale sind Rhythmus, Tempo, Dauer, Tonhöhe, Klangfarbe, Resonanz, Schall, ferner Gleichgewicht, Spannung, Körperhaltung, Temperatur, Vibration, Haut- und Körperkontakt. Die Kommunikationssignale werden zu einem Empfindungssystem gelenkt, das Spitz als „coenästhetische Organisation“ bezeichnet: eine angeborene Rezeptionsfähigkeit gegenüber affektiven Vorgängen.

      frühestes Hören

      im Leben

      Diese frühe Rezeptionsfähigkeit muss unterschieden werden von der späteren rezeptiven Wahrnehmung, die Bewusstsein voraussetzt, einen Lernprozess, bei dem sich durch wiederholtes Hören und Wiedererkennen die Wahrnehmung mehr und mehr ausdifferenziert und Formen und Gesetzmäßigkeiten verstanden werden. Die Bedrohlichkeit diffuser Geräuschwelten weicht dem Genuss, der auch mehr und mehr verfeinert werden kann.

      Immer wieder geschieht es in musiktherapeutischen Prozessen, dass ein Patient bei einem bestimmten Klang, sei es im Rahmen einer Gruppenimprovisation oder wenn er vom Therapeuten zur Rezeption angeboten wurde, bis ins Mark getroffen wird. Dieser Klang tut mit ihm etwas (oder er mit diesem Klang), das in diesem Moment stärker ist als der Bewältigungsschutz, der um eine seelische Verletzung herum konstelliert wurde. Man kann dies als ein gewisses Gefahrenmoment der Musiktherapie auffassen, bei professionellem Umgang damit stellen solche Erfahrungen jedoch eine große Chance dar. Menschen können mit bisher nicht zugänglichen Teilen des Unbewussten in Kontakt kommen, kommunizieren und sich in heilsame therapeutische Prozesse einlassen. Diese Möglichkeit zur Tiefenwirkung machen sich die Methoden rezeptiver Musiktherapie mehr oder weniger zunutze, indem sie sehr bewusst Musik und/oder ihre Elemente (Klänge, Rhythmen, musikalische Strukturen) auswählen und darbieten.

      Gefahrenmoment

      „Verletzlichkeit“

      Im Gegensatz zu der Vielfalt, die Frohne-Hagemann (2004) heute darstellen kann, war rezeptive Musiktherapie im Europa der 70er Jahre des 20. Jh. weitgehend von aktiven Vorgehensweisen mit musikalisch freier Improvisation abgelöst, obwohl sie in den 40er, 50er und 60er Jahren eine zentrale Rolle gespielt hatte. Daher war es damals eher eine Ausnahmeerscheinung, dass ich begann, mich für einen rezeptiven Einsatz des Monochords in der Musiktherapie zu interessieren, nachdem ich dieses Instrument bei Rudolf Haase im Fach „Harmonikale Grundlagenforschung“ kennengelernt hatte (Timmermann 1981; 1983a, b; 1989b). Die Wirkung monotonaler Klangfarben, Intervalle, Skalen und Rhythmen erschien mir damals als faszinierendes und zukunftsträchtiges Forschungsgebiet. In der Tat erlebte das rezeptive Element in der Musiktherapie im Laufe der folgenden Jahre eine Art Renaissance, die allerdings auch ihren ganz eigenen Charakter hatte. Zum Monochord kamen andere monotonale Klänge von Gongs, Klangschalen, Trommeln, Rasseln usw. dazu (s. Strobel/ Timmermann 1991). Die Rolle archaischer Instrumente bei der Rezeption in der Musiktherapie wurde evident (Hess 2002). Im Jahre 1993 erschienen zwei Sonderhefte der Musiktherapeutischen Umschau (Nr. 14, Heft 3 und 4) zum Thema „Neue Wege der Rezeptiven Musiktherapie“.

      Renaissance des

      Rezeptiven, Monotonalität

      In einer Umfrage unter Studierenden der Musiktherapie zu Beginn der 90er Jahre kam Oerter (1993, 340) zu dem Ergebnis, dass trotz der Verschiedenheit der Ausbildungen überall von aktiver Musiktherapie ausgegangen wird. Gezielter Unterricht fand nur in einem Fall statt, ansonsten am Rande oder überhaupt nicht. In Wien wurde es 1992 als Lehrfach, Vorlesung mit Übung, eingeführt (Timmermann 2004b).

      Primat des

      Aktiven

      Für die Ausbildung von MusiktherapeutInnen heute scheint es mir dabei sehr bedeutsam, welche Ansprüche instrumentales Spiel für den Patienten an die Therapeutenhaltung stellt. Diese Vorgehensweise, die ich mittlerweile als „Für-Spiel“ – im Unterschied zum „Vor-Spiel“ – bezeichne, ist eine musiktherapeutische Verwirklichung psychotherapeutischer Techniken wie „Holding“ und „Nähren“ (s. Kap. 6). Bei diesen geht es darum, an den frühen Wurzeln der Persönlichkeit elementare Versorgung wie Halten, Tragen, Wiegen usw. im therapeutischen Setting zu vermitteln. Die Resonanz des Patienten ist direkt zu spüren, etwa an Reaktionen im Körper, in der Atembewegung, in seinen Tränen, seinem Strahlen, oder sie wird anschließend im aufarbeitenden Gespräch deutlich.

      Rezeption des

      „Für-Spiels“

      Dieses „Für-Spiel“ umfasst nicht nur die Arbeit mit monotonalen Klängen, sondern darüber hinaus auch ein improvisiertes Musizieren und Singen der Therapeutin für den Patienten, bei dem sowohl das Instrument als auch die Art und Weise des Spiels von der Therapeutin durch Einfühlung in die Situation gewählt und entwickelt werden. Dies ist immer auch ein sehr persönlicher Vorgang, bei dem die Therapeutin sich auf eine momentane, subjektive Gestaltung einlässt. Der wesentliche Unterschied zum Interpretieren eines komponierten Stückes oder zum Spielen eines Musikstückes durch einen technischen Tonträger liegt auf der Hand. Es bietet der Therapeutin weniger Schutz und mutet mehr unmittelbare Offenbarung zu. Die therapeutische Abstinenz ergibt sich insbesondere daraus, dass die Therapeutin nicht um ihrer selbst willen spielt, sondern im Dienste des Patienten.

      Singen

      In den integrierten Ausbildungskonzepten, die sich keiner Schule oder speziellen Methode allein verpflichtet fühlen, werden rezeptive und aktive Vorgehensweisen im Allgemeinen als sich methodisch ergänzende Elemente der musiktherapeutischen Arbeit betrachtet (s. Timmermann 1998). Die Situation des jeweiligen Patienten entscheidet in der Einzeltherapie, ob Musikhören oder Musikmachen angeboten wird. Ändert sich seine Situation, können sich auch Vorgehensweisen ändern. Bei Patienten mit einer tendenziell schwachen Ich-Struktur kann man mehr methodische Stringenz vereinbaren. Ansonsten ermöglicht die moderne tiefenpsychologisch orientierte Psychotherapie methodische Flexibilität, was der Musiktherapie mit ihrem großen Repertoire an möglichen Angeboten entgegenkommt. Im offenen Raum als Spiel-Raum inszeniert sich im Laufe der Zeit, was aus dem Patienten in der Begegnung mit dem therapeutischen Du entsteht. Der konkrete Prozessmoment bestimmt die Entscheidung, mit dem Patienten zu spielen oder für ihn. Gezielte Angebote aus dem musiktherapeutischen Repertoire aktiver und rezeptiver Musiktherapie helfen ihm, neue Erfahrungs- und Verhaltensmöglichkeiten durch experimentelles Erleben und Handeln zu vertiefen. Was für die Einzelmusiktherapie gilt, lässt sich in der Gruppensituation auf den Gruppenprozess anwenden bzw. auf die Einzelarbeit in und mit der Gruppe.

      Musikhören und

      Musikmachen

      Daneben