aber an dem nichts „wackelt“ – ein voll fließendes Klangkontinuum, eine mit dem Herzen gesummte Melodie aus sich wiederholenden Motiven …
Bei aktiven Vorgehensweisen nutzt die Musiktherapie die tragende Wirkung der Musik im Dialog oder im Gruppenklang. Der Therapeut ist ein verlässlicher Spielpartner, der mit seiner Musik spürbare Präsenz und aufmerksame Zuwendung signalisiert. Fundierende Basslinien und Rhythmen oder auch repetitive melodische Muster geben dem Spiel des Klienten einen sicheren Rahmen, innerhalb dessen der Klient zu seinem eigenen Spiel finden kann. Auch eine improvisierende Gruppe als haltende, tragende, wiegende „gute Mutter“ kann diese Qualität im Klienten ermöglichen.
Stützen: Diese Qualität bezieht sich auf den entwicklungspsychologisch folgenden Schritt. Der Mensch ist schon dabei, eigene Schritte ins Leben zu gehen, er braucht aber noch eine stützende Begleitung, wie ein Kind, das noch nicht alleine gehen kann. Hier sind eher aktive Vorgehensweisen gefragt, die ähnlich sind wie beim Holding. Fundierende Rhythmen und Basslinien bieten Schutz, aber auch bestätigende Antworten auf musikalische Äußerungen und ermutigen, auf dem eigenen Weg voranzuschreiten. In der Gruppe kann sich der Klient z. B. „Helfer“ wählen, andere Gruppenteilnehmer, die er um sich herum sammelt. Sie stützen ihn musikalisch, damit er nicht allein damit ist, ein schwieriges Gefühl auszudrücken. Dies knüpft an das Setting traditioneller Heilungsrituale an (s. a. Kap. 10, Anthropologie), in denen die stützende Begleitung der Gemeinschaft eine wesentliche Rolle spielt. Verschiedenste Spielregeln und rituelle Inszenierungen können stützende Funktion haben. Sie konkretisieren sich an der jeweiligen Situation.
Nähren: Diese psychotherapeutische Technik wendet sich an das seelisch nach Beziehung hungernde innere Kind. Auch diese Technik kann musikalisch rezeptiv oder aktiv angewendet werden. Das Spezifische an der Musiktherapie ist, dass die Therapeutin direkt etwas für den Klienten tun kann. Sie kann (rezeptiv) für ihn spielen und singen, ihn mit „satten“, lebendigen Klängen „symbolisch füttern“ (Rudolf 1996, 19). In der aktiven Begegnung schwingt sich die Therapeutin auf ihn ein i. S. eines „tuning in“ des Säuglingsforschers Daniel Stern (1992). Dieser frühe, präverbale Mutter-Kind-Dialog über lautmalerisches Kommunizieren an den Wurzeln der Persönlichkeit ist lebenswichtige „seelische Nahrung“. Wenn bei frühen Persönlichkeitsstörungen Nachreifungsprozesse erforderlich sind, ist dies eine wichtige Indikation für eine musiktherapeutische Behandlung.
Spiegeln: Diese Technik dient der Stärkung des Klienten dadurch, dass er sich emotional wahrgenommen und dieser Beachtung wert fühlt. Gerade bei narzisstischen Störungen ist das Spiegelbild – dem Mythos entsprechend – von hervorragender Bedeutung. In der Einzeltherapie kann man rezeptiv z. B. für den Klienten eine Musik spielen, in der er seine eigene Stimmung wiederfindet, oder aktiv die musikalischen Äußerungen des Klienten so wiederholen, dass dieser seinen eigenen Gefühlsausdruck in ihnen wiedererkennt. Ein an diese Thematik anknüpfendes Angebot in Gruppen ist die Solo-Tutti-Improvisation, bei der ein Klient spielt, wie er sich gerade fühlt, und die Gruppe hört ihm dabei aufmerksam zu. Dann lauscht er selbst (wenn möglich mit geschlossenen Augen), während die Gruppe mit einem musikalischen Feedback antwortet.
Konfrontieren/Provozieren: Diese Technik bezieht sich auf die Qualität der Auseinandersetzung: mit problematischen Persönlichkeitsanteilen, entsprechenden Schwierigkeiten in Beziehungen, aggressiven Gefühlen usw. Für den Therapeuten ist neben einfühlsamem, unterstützendem Begleiten manchmal auch ein konfrontatives bis provokatives Vorgehen der Situation angemessen. Der Therapeut nimmt hier seine Gegenübertragungsgefühle ernst und macht sich in gewisser Weise zum Anwalt der verleugneten Teile des Klienten, indem er diese in sich spürt und ausdrückt.
Dabei darf er einerseits nicht die erforderliche therapeutische Abstinenz und den nötigen Überblick über die Situation aufgeben. Andererseits kann nur durch gefühlsmäßige Beteiligung im gemeinsamen Spiel der eigentliche emotionale Zustand aufgedeckt und bearbeitet werden. Auch dies ist wiederum ein Spezifikum der Musiktherapie, denn derartige Provokationen erlaubt wohl am ehesten die Spielebene, wo sich solche Grenzgänge eben „spielerisch“ gestalten können. In der Musik kann dies beispielsweise geschehen, indem der Therapeut den Klienten „stört“: bei Vermeidungsstrategien wie „harmonisierendem Geklimper“, musikalischen Stereotypien usw.
Durcharbeiten: Spezifisch musiktherapeutisch ist, dass klassische Behandlungstechniken in der beschriebenen musikalisch modifizierten Form auftreten. Dabei werden auch intellektuell retardierte Personen mit sprachlichen Beeinträchtigungen sowie Patienten mit strukturellen Ich-Störungen psychotherapeutisch behandelbar. Dagegen setzt die Technik des Durcharbeitens in der Psychoanalyse ein intaktes Ich sowie Einsichtsfähigkeit voraus (Oberegelsbacher 1997b, 48 f.).
Musiktherapie ermöglicht ein „Üben ohne zu üben“ (Schmölz 1985; 1988; o. J.), indem „gespielt“ wird. Es geht nicht um Programme, in denen verändertes Erleben und Verhalten trainiert wird, sondern die Angebote werden sorgfältig und einfühlsam auf den individuellen Prozess des Klienten abgestimmt. Man könnte von einem „tiefenpsychologischen Üben“ sprechen, bei dem Wandlungsprozesse im geschützten Rahmen probehandelnd vollzogen werden können. An anderer Stelle (Timmermann 1994, 151 ff.) wurde der musiktherapeutische Prozess in vier Phasen beschrieben, die zeitlich natürlich nicht streng getrennt werden können, sondern sich durchmischen: Erleben – Erkennen – Üben – Wandeln. Die Veränderung in Richtung mehr seelische Gesundheit wird in der therapeutischen Situation selbst durch experimentelles Handeln gestärkt, in der musikalischen Interaktion also, die lebendig vorbereitet auf das Handeln im alltäglichen Leben. Ein solcher Prozess vollzieht sich im Rahmen von mehreren, manchmal vielen Stunden, in denen sich die Dinge wiederholen und allmählich verändern dürfen.
Verbalisisieren/Deuten/Musikalisches Verdeutlichen: In der Musiktherapie kann verbal, nonverbal sowie im Wechsel von beidem aufgearbeitet werden. Nonverbal steht hier das gesamte Repertoire rezeptiver und aktiver Vorgehensweisen zur Verfügung. Auf der Gesprächsebene kann man die Choreografie des nonverbalen Dialoges beschreiben und mit dem alltäglichen Beziehungsgeschehen vergleichen. Außerdem kann man weitere musikalische Aktionen vereinbaren. Die Bearbeitung von Konflikten kann auch in der Musik selbst stattfinden. Die entsprechenden Gefühle auszudrücken muss oft mühsam wiedererlernt und d. h. eben auch „tiefenpsychologisch geübt“ werden.
In verbalen Formen von Psychotherapie steht bei der Bearbeitung der auftauchenden Problematik das Wort, die Sprache im Vordergrund, während gleichzeitig im Hintergrund andere Kräfte intensiv mitwirken. Diese haben einerseits zu tun mit dem Atmosphärischen, mit Stimmung, Schwingung, Resonanz, Rhythmen usw. sowie mit den Botschaften jenseits des semantischen Gehaltes von gesprochenen Worten, den sog. paralinguistischen oder außersprachlichen Elementen des Sprechens: Stimmklang, Tonhöhe, Lautstärke, Sprachrhythmen sowie Gestik, Mimik, Körperhaltungen, -bewegungen, -reaktionen (s. Nitschke 1984; Timmermann 2004a). Auch die präverbale Bedeutung des Rhythmus von Sprechen und Schweigen im therapeutischen Gespräch wurde bereits untersucht (Kächele et al. 1973). Dazu kommen eine Fülle von Faktoren, die in der gesamten Haltung des Therapeuten wurzeln und im Bündnis mit dem Klienten eine heilsame Beziehung begründen können.
Diese Beispiele sollen verdeutlichen, wie psychotherapeutische Techniken in einer die Grundorientierungen, Verfahren und Methoden überschreitenden bzw. übergreifenden Weise und bezogen auf das spezifische Medium Musik in der therapeutischen Situation zur Wirkung gebracht werden können.
Die Praxeologie zeigt, dass musiktherapeutisches Handeln gleichermaßen von Wissen und Intuition getragen ist und auf beiden Ebenen vom Musiktherapeuten umfassende Fähigkeiten verlangt.
Wissen und
Intuition
Timmermann, T. (1998): Rezeptive und aktive Musiktherapie in der Praxis. In: Kraus, W. (Hrsg.): Die Heilkraft der Musik. C. H. Beck, München, 50–66
Timmermann, T. (2004): Tiefenpsychologisch orientierte Musiktherapie. Bausteine für eine Lehre. Reichert, Wiesbaden