6.1 zeigt rezeptive und aktive Möglichkeiten, aus denen sich das große Repertoire an musiktherapeutischen Vorgehensweisen speist. Der Behandlungsplan, aber auch der konkrete Augenblick, bestimmt die Entscheidung, was in welcher Form angeboten wird. Die Tabelle gibt einen kurzen Überblick über die Grundformen (nach Timmermann 2004, 95). Diese Vorgehensweisen bzw. Gruppen von Vorgehensweisen sind z. T. miteinander kombinierbar, z. B. mit leiborientierten und anderen künstlerisch-therapeutischen Vorgehensweisen (Ausdruckstherapie, Medientherapie, Integrative Therapie). Dies wird im weiteren Verlauf dieses Lehrbuchs anhand der praktischen Beispiele noch deutlicher werden.
Arten von
Therapiemusik
Tab. 6.1: Musiktherapeutische Vorgehensweisen (nach Timmermann 2004a, 95)
Bei rezeptiven Vorgehensweisen wird den Klienten traditionell Musik „life“ vom Therapeuten vorgespielt, wobei dieser in seltenen Fällen vielleicht einmal Stücke aus der Literatur wählt, in geeigneten Situationen ein Lied für den Klienten singt, meist aber für ihn mit Instrumenten und/oder Stimme Musik erfindet. In der modernen Musiktherapie können Musikstücke auch von Schallplatte bzw. anderen Tonträgern erklingen. In beiden Fällen wird im Allgemeinen anschließend über das Erlebte gesprochen, oder der Klient verbalisiert sein Erleben direkt während des Hörens. In den letzten 20 Jahren wird zunehmend das Spielen und Singen für den Klienten bzw. die Gruppe, das „Für-Spiel“ im Unterschied zum „Vor-Spiel“, vorgezogen. Dies ist eine gute Möglichkeit, etwas für den Klienten zu tun, für ihn zu spielen – i. S. einer Zuwendung oder auch Wunscherfüllung. Er erfährt hierbei, dass er von einer Bezugsperson etwas bekommt ohne Bedingungen und Gegenleistung. Dadurch wird an eine entwicklungspsychologisch sehr frühe Kindheitserfahrung angeknüpft.
rezeptives Angebot
„Für-Spiel“
Es wurde bereits dargelegt, dass es nicht um mechanistische, quasi „medikamentöse“ Musikwirkungen geht, sondern dass der Beziehungsaspekt eine herausragende Rolle spielt. So wird die Therapeutin den Klienten mit der dargebotenen Musik eher versuchen dort abzuholen, wo er sich stimmungsmäßig gerade befindet, anstatt zu versuchen, ihn voreilig „umzustimmen“.
Selbstverständlich gibt es musikalische Strukturen, die an sich eher aktivieren (ergotrope), und solche, die eher beruhigen (trophotrope). Ein Klient allerdings, der gar nicht beruhigt werden will, kann durch eine beruhigende Musik noch erregter werden, als er bereits ist – und sich gleichzeitig unverstanden und mit seinem Eigenen nicht beachtet fühlen.
ergotrope und
trophotrope
Musikstruktur
Relevant für die Therapie ist ferner die biografische Ebene, wenn sie durch die Zuordnung von Musik in bestimmte Lebensphasen und bewegende Ereignisse angesprochen wird. Andererseits wird durch Musik auch ein Erleben phantasierter innerer Gestaltungen, Tagträume usw. ausgelöst. Die biografischen Assoziationen haben nichts mit dem Charakter einer Musik zu tun, sondern damit, in welchen Lebensmomenten sie für den Hörenden eine Bedeutung hat. Dagegen können die ausgelösten inneren Bilder durchaus im Zusammenhang mit den musikalischen Inhalten stehen.
biografische
Assoziationen
Das Spielen für den Klienten kann auf einem selbst gewählten, evtl. situationsadäquaten Instrument geschehen. Die Improvisation bietet hierbei die beste Möglichkeit, das Atmosphärische und das atmosphärisch Notwendige zu erspüren, musikalisch auszudrücken und auf den Klienten zu reagieren (Beziehung!).
Beim „Für-Spiel“ sollte der Therapeut auf jedem Instrument seines Instrumentariums und vor allem auch mit der Stimme für den Patienten spielen bzw. singen können. Dabei ist sichere Einfachheit überzeugend. Entscheidend ist, dass hier nichts schwankt, so dass der Patient sich getragen und geschützt fühlen kann. In jedem Fall ist in unserer von Musikbeschallung überschwemmten Zeit eine Einstimmung wesentlich, die der Musikdarbietung vorausgeht und den Klienten durch einen Moment von Stille, durch die Fokussierung der Wahrnehmung auf seine seelische Befindlichkeit, auf Körper, Atem und Klang des Augenblicks auf das Hören vorbereitet.
Einstimmung
Bei aktiven Vorgehensweisen wird im Allgemeinen improvisiert. Im offenen Setting bietet man dem Klienten einen Frei-Raum an mit instrumentalem, stimmlichem und körperlichem Ausdruck, ohne dass irgendwelche Voraussetzungen musikalischer oder sonstiger Art erwartet werden. Die Musiktherapeutin begleitet ihn bei diesem improvisierten Ausdruck in einer Haltung offener, sich einfühlender Antwortbereitschaft, einem der Situation gemäßen Mitspiel: Agieren und Mitagieren sind hier positive Qualitäten des therapeutischen Settings (Abs 1989).
aktives Angebot
„Ausdruck“
Bei Menschen mit einer schwachen Ich-Struktur muss man Anhaltspunkte und klare Orientierungen setzen. Therapeutisch begründete Vorgaben, Themen und Spielregeln für die Improvisationen dienen als Übungsangebote auf der Beziehungsebene. Sie ermöglichen experimentelles Handeln in problematischen Bereichen oder das Aufgefangenwerden in einer persönlichen Krise. Themen wie „Porträt meiner Mutter“, „Mein Kinderzimmer“ usw. können zur Exploration eingesetzt werden. Sie vermitteln atmosphärische Eindrücke aus der Kindheit des Klienten, ermöglichen differenzielle musiktherapeutische Diagnostik und lösen gleichzeitig psychodynamische Prozesse aus.
Improvisationen
Die vorgestellten rezeptiven und aktiven Vorgehensweisen sind sich methodisch ergänzende Elemente der musiktherapeutischen Arbeit. Die Situation des jeweiligen Klienten bzw. in der Gruppe entscheidet, ob Musikhören oder Musikmachen angeboten wird. Ändert sich die Situation, können sich auch Vorgehensweisen ändern. Gezielte Angebote aus dem musiktherapeutischen Repertoire aktiver und rezeptiver Musiktherapie helfen ihm, neue Erfahrungs- und Verhaltensmöglichkeiten durch Probehandeln aufzubauen (s. Timmermann 1998).
Probehandeln
Die spezifischen aktiven und rezeptiven Vorgehensweisen der musiktherapeutischen Praxis finden ihr Pendant in den allgemeinen psychotherapeutischen Techniken.
musiktherapeu-tische Techniken
Musiktherapeutische Techniken wie Halten, Nähren, Stützen usw. (Storz 2000) sind weder abhängig vom spezifischen therapeutischen Kontext noch vom Therapeutischen überhaupt. Sie lassen sich durchaus z. B. in präventive, psychohygienische Zusammenhänge übertragen. Dies ist ein weiterer wichtiger Schritt in Richtung auf eine Verständigung mit anderen psychotherapeutischen Verfahren und Methoden. Hierzu gibt es Ansätze bei Priestley (1982; 1983), Oberegelsbacher (1997b, 42 ff.), Storz (2000, 444 f.) und Fitzthum (2001, 38 f.), die im Folgenden systematisiert (nach Timmermann 2004a, 95 ff.) werden.
Psychotherapeutische Techniken
●Halten/Holding/Containing
●Stützen
●Nähren
●Spiegeln
●Konfrontieren/Provozieren
●Durcharbeiten
●Verbalisisieren/Deuten/Nonverbales Verdeutlichen
Wie konkretisiert sich dies nun in der Musiktherapie?
Halten/Holding/Containing: Diese Qualität meint ein entwicklungspsychologisch frühes Gefühl sicheren Gehaltenseins, das vor der Angst bewahrt, zu fallen oder zu zerfallen. Es kann im Klienten entstehen, wenn es gelingt, ein Setting zu schaffen, in dem er sich hingibt, sich ganz und gar einhüllen lässt in eine verlässliche klanglich-rhythmische Gestalt, wenn er sich getragen weiß vom Spiel des Therapeuten bzw. der von diesem angeleiteten Gruppe.
Dies kann mit sehr einfachen musikalischen Mitteln geschehen, und zwar sowohl im Rahmen von aktiven als auch von rezeptiven Vorgehensweisen. Spielt der Therapeut