Tonius Timmermann

Lehrbuch Musiktherapie


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Rolle, die Musik durch die Entwicklungsgeschichte des Menschen, in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft hindurch spielt“ (Spintge 2000, 406).

       Definitionen Musikmedizin:

      Eine kurze: Musikmedizin ist die Einbeziehung von Musik in die schulmedizinische Behandlungskonzeption.

      Eine umfassende: „Musikmedizin ist […] die präventive, therapeutische und rehabilitative Anwendung musikalischer Reize im Gesundheitswesen, mit der Absicht, übliche medizinische Verfahren zu komplementieren, wobei die spezifische, drohende oder tatsächlich gegebene Gesundheitsstörung und deren medizinische Behandlung individuell berücksichtigt wird.“ (Spintge 2001, 8)

       Definition Musikpsychologie:

      „Musikpsychologie ist die Wissenschaft der Wahrnehmung von Musik, der Herstellung und Reproduktion von Musik und der Wirkungen von Musik.“ (Bruhn 1996, 241)

      Musikpsychologie und Musikmedizin (Spintge nutzt die Schreibweise „MusikMedizin“) sind mit musiktherapeutischer Praxis und Forschung interdependent verbunden, d. h. sie arbeiten in einem Verhältnis wechselseitiger Bedingung und Abhängigkeit voneinander. So wie jede denkbare musiktherapeutische Fragestellung (aktuell-spezifisches Beispiel: Musiktherapeutische Begleitung von sexuell missbrauchten Kindern unter Einbeziehung von Aspekten der Psychotraumatologie) im heutigen Forschungsstand ein interdisziplinäres Arbeiten erfordert, reflektieren auch Musikmedizin und Musikpsychologie als „Nahverwandte“ der Musiktherapie ihre Forschungsthemen durch deren Einbettung in ein Netzwerk benachbarter Disziplinen.

      Spintge sieht die wissenschaftliche Evaluierung von Musikmedizin „insbesondere mittels medizinischer, musiktherapeutischer, physiologischer, psychologischer und mathematisch-physikalischer Forschung“ (2000, 396). Damit definiert er auch namens der Ärzte, die Musik in die schulmedizinische Behandlung integrieren, als Teil eines komplexen Wissensnetzwerkes über die Grenzen der Schulmedizin hinaus. Der Zusammenschluss musikmedizinisch arbeitender Ärzte ist die weltweit arbeitende Forschungsgemeinschaft der „International Society for Music in Medicine“ – ISMM.

      internationale

      Musikmedizin

      Interdisziplinäre Fachkomplexe im Wissensnetzwerk

      Netzwerkdenken gilt bei jeder spezifisch musikmedizinischen Fragestellung. Ein spezifisches Beispiel: Einfluss musikalischer Rezeption auf das Schmerzempfinden des chronischen Schmerzpatienten. Eine solche Fragestellung wird musikmedizinisch nur im o. g. interdisziplinären Netzwerk bearbeitet werden können.

      Netzwerke und

      Interdisziplinarität

      Dasselbe in der Musikpsychologie. Diese wird von Bruhn und Kollegen (1993) als Teilbereich der Systematischen Musikwissenschaft gesehen, jedoch auch in Interdependenz zu folgenden Fächern gesetzt: Sozial- und Kulturpsychologie, Wirtschafts- und Medienwissenschaften, Entwicklungs- und Persönlichkeitspsychologie, Pädagogik, Medizin und Psychotherapie, Psychoakustik und Neuropsychologie sowie Psychophysik. Jeder musikpsychologischen Fragestellung wird sich also ebenfalls nur von dem o. g. Netzwerk interdisziplinärer Perspektiven aus genähert werden können. Ein solch spezifisches Beispiel: Wie ist der Einfluss der Musikberieselung im Supermarkt auf das Konsumverhalten des Kunden?

      Apropos „Verwandtschaften“ unter den Fächern, in die Musiktherapie eingebunden ist: Wie in der menschlichen Genealogie trennen sich auch früher näher Verwandte durch die Ausformung eigener Profile im Zeitablauf der Generationsfolge von Fächern. So war Musiktherapie noch in den 70ern des 20. Jh. von der Musikpsychologin Helga de la Motte definiert worden als „Angewandte Musikpsychologie“ – zeitgleich also zu den häufigsten Definitionen durch Mediziner, wie z. B. Harm Willms. Diese sahen die Musiktherapie als Heilhilfsmaßnahme, als „Adjuvans“ der Schulmedizin, was sie medizingeschichtlich in den letzten 200 Jahren auch war.

      Forschungsmethodische Unterschiede

      So weit die Gemeinsamkeiten. Die Abgrenzungen zueinander und zur Musiktherapie beginnen in der Forschungsmethodik und ihrer Instrumente. Die bis heute wirkenden Unterscheidungen begründeten sich im neuen Wissenschaftsverständnis im Zuge des Aufklärungszeitalters mit seinem Höhepunkt in der zweiten Hälfte des 18. Jh. Die bis dahin ganzheitlichere Sicht auf den Patienten (die psychologische, soziale u. a. Perspektiven einbeziehende Sicht des Medicus) wurde jetzt mehr und mehr geprägt vom naturwissenschaftlichen Kausaldenken und -forschen im Blick auf Ursache und (Aus-)Wirkung im Krankheitsgeschehen. (Kausalitätsprinzip vereinfacht: Wenn die und die Symptome beim Patienten zutreffen – dann verdichtet sich diese oder jene Diagnose und erfordert diese oder jene Behandlung …). Medizin wurde von dem amerikanischen Psychoanalytiker und Arzt James Hillman in den 1970er Jahren bis zu Ralph Spintge (2000) als in einer ständigen Reduzierung begriffen: Von der früheren Heilkunst über die Heilkunde bis zur heutigen angewandten Naturwissenschaft und Hochtechnologie. Die heutige Forschungsmethodik im naturwissenschaftlich-(musik)medizinischen Bereich basiert auf

      naturwissen-schaftliche

      Position

      ●der Objektivität des therapeutischen Experiments,

      ●der Reproduzierbarkeit des therapeutischen Erfolgs,

      ●den Erkenntnisfortschritten über therapeutische Erfolge durch Vergleichsgruppen.

      Die Beobachtung des musikmedizinischen Forschungsgegenstandes, die Trias „Mensch (Patient) – Musikwirkung-Krankheitsentwicklung – Krankheitserleben“, wird mit erheblichem mathematisch-statistischen Aufwand begleitet und ausgewertet. Sie bezieht sich letztlich immer auch, wenn nicht zentral, auf die Auswirkung der Musik auf die Soma, auf die Körperantworten des Patienten. Sekundär, aber interdependent wird dabei auch mit der inzwischen ebenfalls in der Musikmedizin als streng individuell gesehen akzeptierten Steuerfunktion der Psyche und des emotionalen Haushaltes auf eben diese Körperantworten. Wegen der Notwendigkeit der Vergleichsgruppenarbeit (Randomisierung), die die Datenmengen nochmals potenziert, werden diese Forschungsmethoden als quantitative Verfahren bezeichnet.

      Musikwirkung

      auf Körper

      Zweifach ist dagegen der Zugang zum Menschen in der musikpsychologischen Forschung, wenn es zentral um das Verstehen seiner seelischen Prozesse geht, wenn es um die Beobachtung seiner Gesundheit/Krankheit, um sein Musikerleben und dessen Einfluss auf Prävention, Therapie und Rehabilitation geht: Zum einen sind dann qualitative, hermeneutische Methoden angesagt, weil Diagnose und Indikation nicht immer vor der Entscheidung zur Forschungsperspektive stehen (wie in der Musikmedizin). Sie werden oft erst während des therapeutischen Prozesses deutlich. Vergleich und Kontrolle sind außerhalb des naturwissenschaftlichen Kausaldenkens in der psychologisierenden „qualitativen Forschung“ auch möglich, aber jeweils innerhalb der individuell verlaufenden Therapieprozesse. Zum anderen erfordert eine musikpsychologische Fragestellung nach der Häufigkeit des Musikhörens in bestimmten Patientengruppen bzw. überhaupt soziologisch erfassten Gruppensystemen wiederum quantitativ gestützte Auswertung empirischer Methoden (wie in der Musikmedizin). Insgesamt arbeitet Musikpsychologie der musiktherapeutischen und musikmedizinischen Behandlungsbereiche zu, sie behandelt und begleitet und untersucht Patienten nicht selbst.

      Musikwirkung

      auf Erleben

      In der westeuropäischen Szene künstlerischer Therapien und damit der Musiktherapie, auch wenn sie in musikmedizinische und musikpsychologische Zusammenhänge eingebunden ist, gilt,

      Musikwirkung im

      therapeutischen Prozess

      ●dass jeder Therapieverlauf nur mit sich selbst vergleichbar ist,

      ●dass statt Reproduzierbarkeit die „dialogische Erinnerung“ besteht (gestützt durch Supervision, Intervision usw.),

      ●dass nicht der therapeutische Erfolg i. S. der Symptombeseitigung der Forschungsgegenstand ist, sondern der therapeutische Prozess, dessen Erfolgsbeurteilung in wissenschaft-lichen Beschreibungsverfahren tiefenpsychologisch-psychoanalytisch-morphologischer Art stattfindet (Petersen 1990).

      quantitativ