Tonius Timmermann

Lehrbuch Musiktherapie


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lernt im Rahmen ihrer Ausbildung einerseits den Umgang mit der Musik als künstlerischem Medium, andererseits den Umgang mit seelischen Prozessen, mit ihrer Wahrnehmung, mit Gegenübertragungsphänomenen usw. Die geschulte Intuition führt dann beides zusammen.

      Im musiktherapeutischen Beziehungsgeschehen kommen Struktur und Dynamik des Unbewussten in Verbindung mit der persönlichen Geschichte des Klienten zum Ausdruck und können leidstiftende Elemente wandeln. Dies bildet den Hintergrund für das Erleben von Musik, für frei improvisierten, musikalischen Ausdruck und musikalische Interaktion. Von besonderer Bedeutung für die Musiktherapie sind außerdem entwicklungspsychologische Erkenntnisse, insbesondere die Ergebnisse der Säuglingsforschung bezüglich der frühen, präverbalen Interaktion (Stern 1992).

      Im therapeutischen Setting konnte dieses Beziehungsgeschehen als zentraler Heilfaktor nachgewiesen werden. Das zentrale Ergebnis der Psychotherapieforschung ist: Nicht die Methode, die angewendet wird, ist das eigentlich Bedeutsame, sondern die Qualität der therapeutischen Beziehung (Czogalik 1988). Das gilt dann natürlich sowohl für verbale Psychotherapie als auch für die Therapien, die mit künstlerischen Medien arbeiten. Im Besonderen ist es allerdings entscheidend für die Wirkung, ob Medium und Methode nicht nur der Persönlichkeit des Therapeuten, sondern auch der des Patienten und seiner Problematik entsprechen, also einer speziellen Indikation gemäß gewählt werden.

      Heilfaktor

      Beziehung

      Nach dieser allgemeinen Einleitung möchten wir im Folgenden einen Überblick über den Stand der Forschung in der Musiktherapie geben. Hier zunächst ein Überblick über die wichtigsten Zentren für musiktherapeutische Forschung im deutschsprachigen Raum:

      ●Universität Ulm: Aufbau eines musiktherapeutischen Forschungsfeldes seit 1987; von 1988 bis 2008 jährliche, d. h. 1. bis 20. „ulmer werkstatt für musiktherapeutische grundlagenforschung“ (ab 2009 an der Universität Augsburg, s. u.).

      ●Heidelberg: Deutsches Zentrum für musiktherapeutische Forschung seit 1995; http://www.dzm.fh-heidelberg.de/deutsch/index.htm (31.1.12).

      ●Deutsches Institut für angewandte Therapieforschung (DIAT e. V.) Heidelberg, http://www.musiktherapie.de/typo3/sysext/rtehtmlarea/htmlarea/plugins/TYPO3Browsers/img/external_link_new_window.gif, (31.1.12), www.fh-heidelberg.de.

      ●Universität Witten-Herdecke: Institut für Musiktherapie, Lehrstuhl für qualitative Forschung. http://www.musictherapyworld.de

      ●Hochschule für Musik und Theater Hamburg: Institut für Musiktherapie. Promotion zum Dr. mus. www.rrz.uni-hamburg.de

      ●Forschungsstelle Musik und Gesundheit an der Philosophisch-Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Augsburg. Seit 2009 jährliche „werkstatt für musiktherapeutische forschung augsburg“ Promotion zum Dr. phil. Erstellen einer kompeletten deutschsprachigen Dissertationsliste http://www.musiktherapie.de/typo3/sysext/rtehtmlarea/htmlarea/plugins/TYPO3Browsers/img/external_link_new_window.gif, www.philso.uni-augsburg.de, 31.1.12

      In Norwegen befasst sich die Forschergruppe rund um Christian Gold (Grieg Academy Music Therapy Research Center, Uni Research, Bergen, Norwegen) mit der Erforschung musiktherapeutischer Wirkweisen (Effektforschung) und Wirkmechanismen (Process-Outcome Forschung). „Wie wirkt Musiktherapie?“ und „Was wirkt in der Musiktherapie?“ sind die zentralen Themen, die überwiegend im Bereich psychischer Erkrankungen erforscht werden.

      Als nächstes blicken wir auf ihren situativen Kontext. Die Forschungslandschaft der Musiktherapie ist derzeit in ihren Untersuchungsgegenständen und Methoden sehr heterogen. Die Vielfalt rührt daher, dass

      heterogene

      Forschungsland-schaft

      1.unterschiedliche musiktherapeutische Identitäten existieren;

      2.verschiedene Klienten, Patienten und Indikationen zu finden sind;

      3.musiktherapeutisches Geschehen an sich einen hohen Grad an Komplexität hat;

      4.mehrere wissenschaftliche Forschungstraditionen bestehen;

      5.viele abgestufte Forschungsebenen existieren;

      6.unterschiedliche Zielrichtungen möglich sind.

      Treffen nun diese sechs Dimensionen aufeinander, so gibt es zwischen ihnen nahezu unendliche Kombinationen, aus denen eine mögliche Fragestellung entsteht. Die Fragestellung wird zu einer Untersuchung, einer Studie oder einem Projekt führen. Alle können ihr Gutes haben und Ausdruck von Sehnsucht nach mehr Klarheit sein.

      Dimension „musiktherapeutische Identität“: Die unterschiedlichen Identitäten reichen von Musiktherapie als mehr künstlerischem Verfahren hin zu einem mehr medizinischen oder psychologischen. Dementsprechend wird die Forschung auf bestimmte Paradigmen (griech. = Beispiele) zurückgreifen und somit tendenziell eher ausgehen von:

      a) Kunst, ihrem kreativen Prozess, ihren Wirkfaktoren, den Gestaltungsmitteln und -formen, Instrumenten, dem gestaltenden Subjekt, dem Kunstprodukt usw.,

      b) der Heilkunde, ihren Spezialgebieten, ihren angewandten Heilmitteln, dem Medikamentenmodell, ihren funktionellen Organsystemen, den Orten der Heilung, wie z. B. ambulant oder stationär, usw.,

      c) der Psychologie, ihren Spezialgebieten wie etwa den Bereich der Kognition, der Lernprozesse, vor allem aber der Interaktion und Beziehung, der Emotion, der Kommunikation; des Weiteren die zugehörigen Konstrukte und Messinstrumente (Fragebogen und Tests), mehr oder weniger operationalisierte (d. h. planmäßige) Behandlungssysteme.

      Dimension „Klientel“: Die verschiedenen Klienten und Indikationen haben einen Einfluss darauf, welche Beobachtungsschemata und Manuale Einsatz finden. Die in den letzten 20 Jahren zur Pflicht gewordene „Erforschung der Forscher und ihrer Beziehung zu den Forschungsobjekten“ hat als Hintergrund das Phänomen, dass die Sichtweise des Forschenden sein Objekt wesentlich mit steuert und damit das Forschungsergebnis. Von Forschern und ihren Sichtweisen hängt auch ab, ob eher entwicklungstherapeutische Stufenmodelle herangezogen werden, z. B. von Daniel Stern oder Jean Piaget, wenn es um Nachreifung geht; ob eher persönlichkeitstheoretische Modelle gewählt werden, z. B. Charakter- oder Emotionspsychologie, wenn es um Veränderung der Persönlichkeit geht; ob eher psychosoziale Konzepte verwendet werden, z. B. jenes der Vulnerabilität (lat. = Verletzlichkeit), wenn es um Rehabilitation geht usw.

      Dimension „musiktherapeutische Komplexität“: Die Komplexität des musiktherapeutischen Geschehens wurde bereits eingangs aufgezeigt. Wiederholend sei gesagt, dass die Wirkung der Musik, der Einfluss der therapeutischen Beziehung, der Aspekt des aktiven Handelns und das Verhältnis von Verbalsprache und Musiksprache usw. zu bedenken sind. Alles wirkt ineinander und kommt in der therapeutischen Situation nicht isoliert vor. Forschung wird in ihrem Design versuchen, die Mischungsverhältnisse so zu variieren, dass einzelne Wirkgrößen isoliert hervortreten können.

      Dimension „Forschungstradition“: Die Forschungstraditionen schließlich sind in unserer abendländisch-mitteleuropäischen Kultur seit jeher zwei (s. a. Kap. 4). Sie stehen gleichberechtigt nebeneinander, obwohl dies einige Forschungs- und Lehrstätten ablehnen.

      ●Die idiografische Tradition (griech. „idios“ = eigen; „graphein“ = schreiben; d. h. eigenhändig) will das Einzelne in seiner geschichtlich bestimmten Gestalt erforschen. Sie steht den Geisteswissenschaften und dem Menschenbild der Romantik nahe. Erkenntnis entsteht durch Konzentration auf das Individuum, das Subjekt