Tonius Timmermann

Lehrbuch Musiktherapie


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von Kommunikation und Beziehung;

      ●Öffnung von psychovegetativen Kommunikationskanälen;

      ●Offenlegung und Veränderung sozialer Interaktionsmuster;

      ●Nachreifung krankheitswertiger früher Defizite;

      ●Probehandeln im Dienste von Problemlösung (Oberegelsbacher 2004, 1555).

      Weitere Ziele sind:

      ●klinische Diagnostik;

      ●kathartisches Freilegen verschütteter Emotionen und Traumata;

      ●Darstellung intrapsychischer Zustände und Konflikte;

      ●nonverbale Konfliktbearbeitung;

      ●Transformieren und Strukturieren von Desintegrationszuständen bei Zerfall der Persönlichkeit;

      ●Herstellung von Realitätsbezug über Symbolisierung;

      ●Anregung freier Assoziation; Bewusstmachung von krank machenden Einstellungen;

      ●Förderung der Erlebnis- und Genussfähigkeit.

      Die Definition der Musiktherapie im Rahmen von Psychotherapie bedarf einer Abgrenzung zu entwicklungs- und persönlichkeitsfördernden Methoden (Fitzthum et al. 2000, 445); zu Psychotherapien oder Kunsttherapien, die fallweise Musik verwenden, sowie zur Musikmedizin (Oberegelsbacher/Rezzadore 2003, 98).

      Als Pioniere einer psychotherapeutischen Musiktherapie in Europa können Edith Lecourt, Gertrud Loos, Mary Priestley, Alfred Schmölz, Christoph Schwabe und Harm Willms genannt werden. Viele ihrer Gedanken bereiteten eine Kultur, die dem heutigen „Mainstream“ der Musiktherapie zugrunde liegt.

      Pioniere

      Die Kasseler Konferenz Musiktherapeutischer Vereinigungen in Deutschland hat zehn Kasseler Thesen zur Musiktherapie vorgestellt (1998, 232 f.): Musiktherapie gilt dort als Sammelbegriff für eine praxisorientierte Wissenschaft, die interdisziplinär und – in Abgrenzung zu pharmakologischer und physikalischer Therapie – psychotherapeutisch ist.

      Kasseler Thesen

      Es wird von einem bio-psycho-sozialen Krankheitsverständnis ausgegangen und von einem Methodensystem, das sich auf therapeutische, rehabilitative und präventive Aufgaben einstellen kann. Die Methoden sind abhängig von Theorie und Kontext, vor allem bei Indikation, Zielen, Praxeologie, Umgang mit Dynamik der Gruppe und Dyade. Es bedarf eines Settings und einer therapeutischen Beziehung, damit sich die Wirksamkeit der Therapie im Wahrnehmen, Erkennen und Handeln des Patienten entfalten kann. Niemals wirkt dabei nur ein Faktor.

      Die gestaltete Musik mit ihren Tönen, Klängen und Geräuschen, mit Rhythmus, Melodie und Harmonie ist zeitstrukturierend. Sie artikuliert menschliches Erleben, hat die Funktion von Ausdruck, von Kommunikation und ist ein subjektiver Bedeutungsträger für verinnerlichte Erfahrungen. Musik wird als präsentatives Symbolsystem verstanden, aber auch unter semiotischen und ästhetischen Aspekten betrachtet.

      Die musiktherapeutischen Methoden folgen tiefenpsychologischen, verhaltenstherapeutisch-lerntheoretischen, systemischen, anthroposophischen und ganzheitlich-humanistischen Theoriebildungen und Handlungskonzepten. Gefordert wird auch eine eigene musiktherapeutische Diagnostik, welche Krankheitsbild, Therapieprozess und musikalische Phänomene mit den körperlichen, seelischen und sozialen Vorgängen in Verbindung bringt.

      Ein Versuch, die Definitionen verschiedenster Musiktherapien zu kommentieren, wurde im angloamerikanischen Raum von Kenneth Bruscia (1989) unternommen.

      Bunt, L. (1998): Musiktherapie. Eine Einführung für psychosoziale und medizinische Berufe. Beltz, Weinheim/Basel

      Decker-Voigt, H.-H. (1993): Aus der Seele gespielt. Eine Einführung in die Musiktherapie. Goldmann, München

      Timmermann, T. (2004): Tiefenpsychologisch orientierte Musiktherapie. Bausteine für eine Lehre. Reichert, Wiesbaden

       von Tonius Timmermann und Dorothea Oberegelsbacher

      „Die Zukunft der Medizin als Heilkunst

      liegt in der Reaktivierung der Künste.“

      (James Hillman)

      Musiktherapie hat sich im Laufe der letzten fünf Jahrzehnte zunehmend in einer breiten Skala von Tätigkeitsbereichen etabliert, und zwar dort, wo Klienten oder Patienten zu finden sind, bei denen eine musiktherapeutische Behandlung indiziert ist. Dies ist der Fall, wo psychotherapeutische Behandlung bzw. psychohygienische Begleitung krankheits-, behinderungs-, störungs- oder krisenbedingter körperlich-seelisch-geistiger Zustände und Prozesse am wirkungsvollsten unter Einbezug des Mediums Musik geschehen kann. Hier ein erster Überblick, der Altersstufen und klinische Bereiche unterscheidet:

       Überblick Praxisfelder

      Babys, Kinder, Jugendliche: Neonatologie, „Schrei-Babys“, Kinder- und Jugendpsychiatrie, Kinder- und Jugendpsychotherapie.

      Psychotherapie und Psychosomatik: die klassischen Indikationen für psychotherapeutische Maßnahmen: neurotische und Essstörungen, Belastungs-, Persönlichkeits- und somatoforme Störungen.

      Psychiatrie: große Bandbreite von Erkrankungen und Störungen: verschiedene psychotische Krankheitsbilder wie Schizophrenie, schizotype und wahnhafte Störungen, affektive Störungen; Suchterkrankungen; zunehmend gerontopsychiatrische Patienten; zunehmend psychotherapeutische Stationen mit Borderline-Störungen.

      Menschen mit Behinderung: geistige, körperliche und mehrfache Behinderung.

      Neurologische Rehabilitation: z. B. Schädel-Hirn-Traumen, Komata, Aphasien.

      Innere Medizin: emotionale Verarbeitung körperlicher Erkrankungen.

      Onkologie: Coping, Akuthilfe bei der Krankheitsbewältigung, insbesondere bei schweren, lebensverändernden Krankheiten.

      Geriatrie: Betreuung und Behandlung alter Menschen.

      Palliativmedizin: moribunde Patienten.

      Hospiz: Begleitung beim Sterbeprozess.

      Im Bereich Kinder und Jugendliche finden wir zunächst den Einsatz von Musiktherapie bei neugeborenen und frühgeborenen Kindern in der Neonatalogie (Nöcker-Ribaupierre 2003a). In der Altersentwicklung danach anzusetzen ist die musiktherapeutische Arbeit mit sog. „Schrei-Babys“ (Lenz 2001). In der Folge sind alle Formen von Entwicklungs-, Verhaltens- und emotionalen Störungen, alle Krankheitsbilder der Kinder- und Jugendpsychiatrie relevant. Musiktherapie kann ambulant oder in kinder- und jugendpsychiatrischen Einrichtungen durchgeführt werden. In der psychotherapeutischen Arbeit mit Kindern und Jugendlichen spielt die Arbeit mit Medien, wie z. B. Musik oder Malstiften, eine besondere Rolle, da spontanes unbewusstes Ausdrucksverhalten, die Gestaltung von Konflikten und die Suche nach Lösungen hier im Allgemeinen sinnvoller ist als das Reden über Konflikte (s. Füg 1991; Mahns 1997; Haffa-Schmidt et al. 1999; Büchele 2000; Aurora/Seidel 2002). Ein Schwerpunkt liegt auf Nachreifung, beispielsweise bei autistischen Kindern (Schumacher 1994; 2004).

      Im Bereich Psychotherapie und Psychosomatik werden im Allgemeinen sprachfähige erwachsene Menschen behandelt, bei denen jedoch die Ursache ihrer Konflikte sehr häufig in frühen, vorsprachlichen Phasen der Persönlichkeitsentwicklung liegt – man spricht daher von frühen Störungen oder Grundstörungen. Die präverbalen Schichten der Persönlichkeit haben also wesentlichen Anteil an der psychischen Erkrankung oder Störung. Deswegen wird Musiktherapie angeboten, um Zugang zu diesen Schichten zu ermöglichen. Nonverbaler musikalischer Ausdruck und Kommunikation