Tonius Timmermann

Lehrbuch Musiktherapie


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entdeckten mit Recht in der interdisziplinär angelegten Musiktherapie eine ebenso erfolgreiche wie vor allem vergleichsweise günstige Therapieform.

      Gesundheitswissen-schaft „Musik-therapie“

      Weitergedacht für die gemeinsamen Forschungsrichtungen von Musikmedizin und Musikpsychologie in Bezug auf Musiktherapie: Indem der Patient sein Symptom künstlerisch gestaltet (die Krebspatientin ihr Karzinom malt, der Herzinfarktpatient die Wiederholungsangst musikalisch improvisiert), gestaltet er die Symptome und deren ätiologischen Hintergrund aktiv um. Er stellt den Ausgleich dar für eine Patientenrolle, die der Klinikalltag eher als passiv, als rezeptiv, den Patienten als Behandlungsobjekt sieht, nicht als MitbehandlerIn – wie es die künstlerischen Therapien per se tun.

      Die Zukunft der Forschung hängt nicht von der Zukunft der Hochschulen als ihren dafür tradierten Orten ab, sondern von der Synergie zwischen Hochschule, Berufspolitik und Praxisort. „Was wir brauchen [für die Forschung; Anm. d. Verf.], ist eine starke politische Lobby, und dies verlangt Einigkeit unter den Berufsvertretern.“ (Aldridge 2005, 151) Diese Position nehmen aktuell auch die meisten berufspolitischen Gruppierungen in der Musikmedizin (ISMM) und in der Musiktherapie einschließlich der meisten Studien- und Ausbildungsleitungen ein. Die Position der Musikpsychologie dazu ist noch nicht formuliert.

      Forschungs-synergien

      Am effektivsten sind bereits diejenigen Forschungen (etwa im Bereich des bis dato noch einzigen Promotionsstudienganges für Musiktherapie in Hamburg), bei denen der Doktorand die Forschungsarbeitsrichtung und deren Forschungsdesign seiner Arbeit mit einem interessierten Arbeitgeber aus dem Gesundheitswesen abspricht, der zunehmend mehr – neben privaten Stiftungen – eine Mitfinanzierung übernimmt. Fragen der Handlungsforschung und der zugehörigen Forschungsethik orientieren sich dabei an den vorhandenen Ethik-Codes im deutschsprachigen und den „codes of ethics“ im internationalen Bereich der Berufsverbände im jeweiligen Gesundheitswesen. In mittelfristiger Planung wird dies weniger ein nationales sein – wie überwiegend noch das gegenwärtige –, sondern ein europäisches.

      Finanzierung

      aus Drittmitteln

      Schmidt, H. U., Stegemann, T., Spitzer, C. (Hrsg.) (2019): Musiktherapie bei psychischen und psychosomatischen Störungen. Elsevier, Amsterdam

      Spintge, R. (2001): Aspekte zum Fach MusikMedizin. In: Decker-Voigt, H.-H. (Hrsg.): Schulen der Musiktherapie, Ernst Reinhardt, München, 387–407

      Spintge, R. (2009): Musikmedizinische Forschung heute und morgen. In: Decker-Voigt, H.-H., Weymann. E. (Hrsg.): Lexikon Musiktherapie. Hogrefe, Göttingen, 303 ff.

      Spintge, R. (2019): MusikMedizin. In: Decker-Voigt, H.-H., Weymann, E. (Hrsg.): Lexikon Musiktherapie. 3. Aufl. Hogrefe, Göttingen (in Vorbereitung)

       von Hans-Helmut Decker-Voigt

      „Wer dauernd auf die Pauke haut, geht eines Tages flöten“ (Trenkle 2004)

      Längst bevor ein Patient ein Instrument spielt, spielt es in ihm. Und es spielt gleich mehrere Rollen. Die Entscheidung, nach einem ersten Umschauen im Musiktherapieraum ein erstes Umhören folgen zu lassen – meist ausgelöst durch die Einladung des Musiktherapeuten, zu explorieren, auszuprobieren, was einen vielleicht neugierig macht … und dieses Umhören in die Entscheidung für ein Instrument münden zu lassen oder gar keines zu nehmen, ist gänzlich unzufällig.

      Wirkungsfunktionen

      Der Mensch steht dem Musikinstrument und dessen folgenden Wirkungsfunktionen gegenüber:

      ●Es wirkt auf ihn durch das Profil des Instrumentenkörpers, seine Form: vertraut, neu, fremd, befremdend, anziehend.

      ●Es wirkt durch die Noch-nicht-Hörbarkeit, die sich schon nähert: vertraut, neu, befremdend, anziehend.

      ●Es wirkt durch das Material, aus dem es ist: glatt, rissig, künstlich, natürlich.

      ●Es wirkt durch die Einladung zum Spiel (den Bogen über Saiten eines Streichinstruments zu streichen, die Tasten eines Klaviers oder Akkordeons zu drücken, eine Rassel zu schütteln).

      Die Anziehung des Menschen hin zu einem Instrument oder seine Abwehr dagegen (in der Therapie sprechen wir dann von Widerstand) liegt großenteils in der Assoziation (lat. = Hinzugesellung) innerer Bilder, Erinnerungen, Bedürfnisse, die beim Annähern oder auch nur Betrachten eines Musikinstruments ausgelöst werden.

      assoziativer

      Gehalt

      Mary Priestley sah in ihrer noch traditionelleren tiefenpsychologischen Sicht Musikinstrumente als Auslöser für Bedürfnisse im Menschen, die den Entwicklungsphasen früher Sexualität folgten. Sie verband Schlaginstrumente mit der analen Phase, Blasinstrumente mit der oralen und Streichinstrumente mit der genitalen (Priestley 1983). Diese Psycho-Logik, die bei zu einseitig vereinfachenden Psychoanalyse-„Freaks“ zu Kausalitäten führte – Schlägelspiel = Phallusspiel oder Streichinstrumentenspiel = Streichelspiel –, wurde durch die „Appellspektrumsanalyse“ ausgeweitet. Sie baute auf der Theorie der Kreativtherapie von Maks Kliphuis auf. Diese ging von einer in jedem Individuum angelegten „Bedürfnishierarchie“ aus, die von den das Individuum umgebenden Materialien mit ihren unterschiedlichen „Appellen“ an eben diese Bedürfnishierarchie rührt und diesen anzieht, abstößt, immer aber „appelliert“ (Kliphuis 1973). Kliphuis unterscheidet bei den materialen Appellen folgende Bedürfnisreaktionen:

      Instrumenten-symbolik der

      Tiefenpsychologie

      Appellwert und

      Bedürfnishierarchie

      1.sensopathisch-libidinöse Bedürfnisse (taktil-haptische Kontaktwünsche),

      2.dimensionale Bedürfnisse (Gestaltung von Raum, Form und Zeit, also Allmacht, Endlosigkeit oder sich durch das Material abgrenzen, schützen)

      3.thematisch-inhaltliche Bedürfnisse (symbolische Besetztheit des Materials in seiner Form, Farbe, Größe, Struktur).

      Wil Waardenburg bezog in dem Kontext von Kliphuis erstmals die Appellspektrumsanalyse auf die Spielweise, den Klang, die vielschichtigen Symbolwertigkeiten von Musikinstrumenten (1973). In der phänomenologisch orientierten Musiktherapie wird mit der Appellspektrumsanalyse bis heute in immer weiter modifizierteren Formen gearbeitet.

      Eine Fallvignette (nach Ulrike Höhmann 1996): Eine Diabetes-Patientin, die ihr Kind durch eine Fehlgeburt verloren hatte, ging während des ersten Therapie-Settings spontan auf die große Pauke zu, nahm auch die Schlägel zur Hand – war aber nicht imstande, zu spielen. Im Nachbearbeitungsgespräch wurde deutlich, dass die Pauke an sie „appellierte“ – durch die Assoziation an die Form ihres Bauchs während der Schwangerschaft. Hingegen die mögliche, vermutete Lautstärke der Pauke appellierte, erinnerte die bis dahin verdrängte Wut über den Tod ihres Kindes. Die Intensität und Dimension der Verdrängung wurde schließlich deutlich durch die Unfähigkeit, das Spiel aufzunehmen.

      subjektive

      Bedeutung

      Höhmann führt Waardenburgs Ansatz weiter und sieht in der ersten Phase einer Musiktherapie, der Erforschung des vorhandenen Instrumentariums durch den Patienten (die Exploration) bereits den Beginn einer „Überwindung der Problemfixierung“, ein weiteres Beispiel für die Symbolträchtigkeit der Spiel- und Umgehensweise mit dem Instrument. Beispielhaft am Instrumentenkörper des Balafons (afrikanisches Xylophon) nähert sich Höhmann dem Musikinstrument in Analogie zum menschlichen Körper tiefenpsychologisch-phänomenologisch an und differenziert das Instrument.