Dagmar Fenner

Selbstoptimierung und Enhancement


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einem bedürftigen, kranken oder krankheitsgefährdeten Menschen in der kurativen Medizin tritt im Rahmen der wunscherfüllenden Medizin ein gesunder und autonomer Klient oder Kunde, der eine von ihm gewünschte individualisierte Dienstleistung nachfragt. In seiner traditionellen Rolle beurteilt der Arzt mit objektivem Blick und nach etablierten Kriterien die Indikation, d.h. die Behandlungsbedürftigkeit des Patienten und übernimmt die Verantwortung für die allenfalls einzuleitende angemessene Therapie. Im neuen wunschorientierten Modell wird das Angebot hingegen nicht durch den Arzt mit seinem medizinischen Wissen und Können gesteuert, sondern letztlich durch die Nachfrage der Klienten (vgl. ebd., 87). Im Verlauf des Paradigmenwechsels in der Medizin gewinnt somit die Patientenautonomie gegenüber dem ärztlichen Paternalismus an Bedeutung, und es kommt zu einer Deregulierung und Kommerzialisierung des Gesundheitssystems. Aufgrund der dabei vorwiegend zum Einsatz kommenden biomedizinischen Methoden ist die wunscherfüllende Medizin zu einem großen Teil Enhancement-MedizinMedizinEnhancement-. Zur wunscherfüllenden Medizin zählen außerdem noch die gegen die „Schulmedizin“ gerichtete „Komplementär“- oder „Alternativmedizin“ mit einem ganzheitlichen Gesundheitsbegriff und die von den Kunden selbst zu zahlenden, medizinisch sinnvollen, aber nicht notwendigen „individualvertraglichen Gesundheitsleistungen (IGeL)“ (vgl. KettnerKettner, Matthias, 84ff./Junker u.a., 64f.).

      Da die geschilderten medizinischen Strukturveränderungen in komplexe kulturelle Prozesse wie politische Programme zur Förderung medizinischer Forschung und Entwicklung, soziale Gesundheitssysteme und gesellschaftliche Hintergrundannahmen von Gesundheit und Krankheit eingebettet sind, bedarf es öffentlicher ethischer Diskurse über den Wandel im Grundverständnis der Medizin. Denn im Wettbewerb um Mitglieder geraten beispielsweise die Krankenkassen zunehmend unter Druck, über die kurativen Maßnahmen hinaus entsprechend der Wünsche der Kunden auch alternative und medizinisch nicht indizierte Leistungen anzubieten. Indem Ärzte von heilenden Versorgern zu medizinischen Dienstleistern und Helfern individueller Wunscherfüllung mit ganz neuen Einkommensmöglichkeiten werden und die Kunden die gewünschten Gesundheitsleistungen selbst zahlen, droht Gesundheit zu einem Konsumgut im freien Wettbewerb der kapitalistischen MarktwirtschaftGesundheitssystem, marktliberales (Präferenz-Effizienz-Modell) zu werden. Entgegen weit verbreiteter impliziter Unterstellungen ist der neue medizinische Leitbegriff einer präferenzorientierten Dienstleistung keineswegs „wertneutral“, sondern muss kritisch reflektiert werden (vgl. MaioMaio, Giovanni 2006, 340). Befürchtet wird von Skeptikern eine problematische Verschiebung im ärztlichen Ethos von der traditionellen altruistischen „Humanität des Arztes“ zur „Egozentrik des ‚Patienten‘“ (Eberbach, 13). Ärzte und Kliniken könnten sich statt an Werten wie Gemeinwohl und Volksgesundheit bzw. an einem allgemeinmenschlichen Recht auf Gesundheit immer mehr an ökonomischen Eigeninteressen orientieren. Abzulehnen ist klarerweise ein radikalliberales Modell mit einer totalen Kommerzialisierung medizinischer Leistungen und der Einebnung des Unterschieds zwischen medizinisch indizierten und wunschmedizinischen Behandlungen, weil eine marktförmige Verteilung leicht zu einer „Fehlallokation“ der Gesundheitsleistungen führt (vgl. KettnerKettner, Matthias, 88/Kap. 3.1, Argument 2): Während zahlungskräftige Kunden ihre Luxusbedürfnisse befriedigen können, bleiben berechtigte Ansprüche auf eine medizinische Grundversorgung möglicherweise unerfüllt. Im vorliegenden Kapitel soll es aber erst einmal nur um eine deskriptive Unterscheidung von „Enhancement“ und „Therapie“ gehen, die für eine definitorische Bestimmung des „Enhancements“ unverzichtbar ist (vgl. SynofzikSynofzik, Matthias 2006, 37/Kap. 1.1). Die Möglichkeit einer solchen trennscharfen Unterscheidung wird vielfach bestritten, weil schon die Begriffe „Krankheit“ und „Gesundheit“ höchst unterschiedlich gebraucht werden. Es ist also erst einmal mittels einer Analyse der wichtigsten Krankheits- und Gesundheitsmodelle zu klären, ob das Enhancement überhaupt eine eigene, klar abgrenzbare Klasse von Handlungen bezeichnet, die im Kontrast zur ethisch unkontroversen Krankheitsbehandlung einen abgesonderten ethischen Problembereich darstellt.

      1.3.1 Deskriptive Analyse verschiedener Krankheits- und Gesundheitsmodelle

      1) Objektives biostatisches Krankheitsmodell

      In der medizinischen Praxis äußerst beliebt ist das auf Christopher BoorseBoorse, Christopher zurückgehende objektive biostatische KrankheitsmodellGesundheits-/Krankheits-Modellebiostatisches, bei dem „Gesundheit“ negativ als Abwesenheit von Krankheit und „Krankheit“ als Abweichung von einem speziestypischen „normalen Funktionieren“ definiert wird (vgl. BoorseBoorse, Christopher, 567/DanielsDaniels, Norman, 28). NaturalistischGesundheitnaturalistisches Konzept ist dieses in der Tradition der physiologischen Medizin entworfene Modell, insofern es die Unterscheidung zwischen Krankheit und Gesundheit „wertfrei“ in Bezug auf objektive, naturwissenschaftlich überprüfbare Fakten zu treffen beansprucht. Unter „normaler Funktionsfähigkeit“ wird dabei eine statistische Norm einer typischen, alters- und geschlechtsspezifischen Referenzklasse des jeweiligen Organismus verstanden. Anders als bei einem rein statistischen Normalitätsbegriff werden beim biologischen Funktionsbegriff nur diejenigen Abweichungen von einem statistischen Mittelwert als krankhaft interpretiert, die speziestypische Funktionen verhindern. Damit sind aber nicht alle Probleme einer statistischen Krankheitsdefinition überwunden, weil bezogen auf die altersspezifische Referenzklasse statistisch häufige Erscheinungen wie z.B. Karies, Osteoporose oder Prostatakrebs trotz einschränkender biologischer Funktionen „normalNormalitätbiostatische“ und damit eigentlich keine „Krankheiten“ wären (vgl. WernerWerner, Micha, 146). Zudem lassen sich bei vielen organischen Funktionen durch statistische Erhebungen nur gewisse Normbereiche festlegen, wobei die Grenze zwischen „normal“ und „krankhaft“ von kulturellen Deutungen abhängt und somit nicht völlig wertfrei ist. Ein typisches Beispiel wäre ein niedriger Blutdruck jenseits eines bestimmten Normbereichs, der nur in Deutschland als Indiz für eine Krankheit aufgefasst und in Großbritannien spöttisch „German disease“ genannt wird. An seine Grenzen stößt das biostatische Modell v.a. auch im psychosozialen Bereich, da psychische Krankheiten bzw. Störungen noch viel stärker von kulturellen Vorstellungen von „normalem“ und „nichtnormalem“ Verhalten und von gesellschaftlichen Erwartungshaltungen abhängen. BoorsesBoorse, Christopher Definition von psychischen Krankheiten als Störungen der Wahrnehmung und der kognitiven Funktionen analog zu physischen Funktionsstörungen erscheint als reduktionistisch und inadäquat (vgl. LenkLenk, Christian 117f.; 120f.). Die Kritik am biostatischen Krankheitsmodell richtet sich entsprechend gegen den Anspruch auf naturwissenschaftliche Exaktheit und Wertfreiheit, obschon durchaus nicht alle Anhänger einen Naturalismus im strengen Sinn vertreten (vgl. etwa DanielsDaniels, Norman, 30/BuchananBuchanan, Alan u.a., 151). Auf der physiologischen Ebene von Zellen und Organen lassen sich jedoch unwillkürliche Funktionsstörungen wie beispielsweise entartete und unkontrolliert wuchernde Tumorzellen, eine Lungenventilationsstörung oder eine Störung des Bewegungsapparates relativ wertfrei und deskriptiv als „Krankheiten“ ausweisen, sodass auch die Grenze zwischen Therapie und Enhancement klar gezogen werden könnte.

      2) Subjektivistischer lebensweltlicher Wohlbefindens-Ansatz

      Im Kontrast zum objektiven Krankheitsmodell geht der Gesundheits-/Krankheits-Modellesubjektivistisches, lebensweltlichessubjektive lebensweltliche Wohlbefindens-Ansatz von einem positiven, maximalistischen BegriffGesundheitMinimal-/Maximalbegriff von „Gesundheit“ als einem Idealzustand subjektiven Wohlbefindens aus. „Krankheit“ hingegen stellt eine Beeinträchtigung des subjektiven Wohlbefindens dar. Exemplarisch dafür ist die bekannte Definition der WHO von „Gesundheit“ als „Zustand vollkommenen physischen, psychischen und sozialen Wohlbefindens und nicht nur als Abwesenheit von Krankheit und Behinderung“ (WHO 1946). Im Zuge des Selbstoptimierungstrends kam es zu einer Individualisierung des Gesundheitsverständnisses und einem Erstarken des sogenannten zweiten Gesundheitsmarktes (vgl. MühlhausenMühlhausen, Corinna u.a. 2013, 5f.; 17): Gesundheit wird nicht mehr allein über die Abwesenheit von Krankheit definiert, sondern von rund 80 % der Befragten mit persönlichem Wohlbefinden assoziiert. Statt mit „Wohlbefinden“ wird „Gesundheit“ auch mit „Glück“ oder „Lebensqualität“ gleichgesetzt, so etwa von Horst BaierBaier, Horst oder Lennart Nordenfelt (vgl. Baier, 100/Nordenfelt, 7). Für das medizinische Gesundheitssystem und eine klare