Konsequenzen haben, wie das in der Enhancement-Debatte vieldiskutierte Beispiel von Dan BrockBrock, Dan zeigt (vgl. BuchananBuchanan, Alan u.a., 115): Der 11jährige Jonny hat ein Wachstumshormondefizit und ist aufgrund dieser Funktionsstörung im Sinne eines naturwissenschaftlichen biostatischen Krankheitsbegriffs „krank“ und damit behandlungsbedürftig. Dem gleichaltrigen Billy hingegen fehlen zwar keine Hormone, aber er wird als Kind extrem kleiner Eltern auch höchsten 1.60 m groß und genauso wie Jonny gehänselt werden und unter dem abnormen Kleinwuchs leiden. Wäre eine normative Verwendung eines objektiven naturalistischen Krankheitsbegriffs bei diesem gleichen empirischen Phänomen und gleichem subjektivem Leidensdruck nicht ungerecht? Wieso ist eine „Therapie“ überhaupt moralisch geboten und wieso sollen normale speziestypische Funktionen oder wertneutrale statistische Referenzwerte eine Obergrenze legitimer medizinischer Eingriffe bilden? Wäre nicht vielmehr die Erweiterung des gegebenen biologischen Spektrums der Gattung geboten, weil eine Verbesserung beispielsweise des Immunabwehrsystems oder intellektueller Fähigkeiten über die Spezies-Grenze hinaus grundsätzlich wünschenswert sind (vgl. BuchananBuchanan, Alan u.a., 127/JuengstJuengst, Eric, 33f.)?
1.3.2 Notwendigkeit einer normativen Rechtfertigung von Therapie und Enhancement
Die Begriffe „Gesundheit“ und „Krankheit“ sind nicht neutral, sondern wertend und bringen mit ihren Konnotationen lebensweltlich kaum hinterfragte implizite Werthaltungen zum Ausdruck: „GesundheitGesundheit“ gilt allgemein als hoher Wert und hohes Gut, wohingegen „Krankheit“ eine negative Wertung enthält und ein Übel oder eine Notsituation anzeigt. Zudem ist der Krankheitsbegriff ein „praktisch normativer Begriff“, weil er mit der Aufforderung zur Bekämpfung des unerwünschten Krankheitszustandes und zur Wiederherstellung von Gesundheit mittels therapeutischer Maßnahmen verbunden ist (vgl. Boppert, 417). Ein in Europa jedem Individuum zugesprochener moralischer und rechtlicher Anspruch auf Gesundheit ergibt sich aber keineswegs automatisch aus deskriptiven Tatsachenbeschreibungen, sondern erfordert eine rationale Begründung mittels ethischer Argumente und allgemein nachvollziehbarer rationaler Gründe. Letztlich ist die Therapie eindeutig Kranker daher genauso rechtfertigungspflichtig wie das Enhancement eindeutig Gesunder. Insofern wird in der Enhancement-Debatte zu Recht verlangt, die Beurteilung der ethischen Notwendigkeit oder Unzulässigkeit von medizinischen Eingriffen müsse unabhängig von der Unterscheidung von Gesundheit und Krankheit bzw. Enhancement und Therapie erfolgen (vgl. TalbotTalbot, Davinia u.a., 260). Unzureichend sind willkürliche Einzelfallentscheidung z.B. anhand des scheinbar voraussetzungsarmen ethischen Kriteriums des Nutzens einer gewünschten Maßnahme, solange sich die Abwägung auf die faktischen subjektiven Präferenzen der beteiligten Ärzte und Patienten beschränkt und die tieferliegenden normativen Hintergrundannahmen unreflektiert bleiben (vgl. SynofzikSynofzik, Matthias 2006, 39). Unabdingbar sind gesellschaftliche Verständigungsprozesse über die für alle Menschen wichtigen Eigenschaften und Fähigkeiten sowie die Aufgaben der Medizin. Denn es müssen gesellschaftliche Entscheidungen über die Verwendung der begrenzten Ressourcen an medizinischem Personal und öffentlichen Geldern für die Entwicklung und Bereitstellung neuer Technologien getroffen werden. Einerseits sind mit den immer stärker werdenden individuellen Wünschen nach Selbstoptimierung Ansprüche und Forderungen auf eine jedem Menschen zustehende medizinische Unterstützung verbunden, die eine Umgestaltung des Gesundheitswesens bedingen. Andererseits beeinflussen die öffentliche Legitimierung, die Schaffung entsprechender institutioneller Rahmenbedingungen und ein immer häufigerer Einsatz neuer medizinischer Praktiken das menschliche Selbstverständnis, die Vorstellungen von Lebensqualität und das Zusammenleben in der Gesellschaft. Eindeutig ungerecht wäre eine Regulierung des medizinischen Angebots über den freien WettbewerbGesundheitssystem, marktliberales (Präferenz-Effizienz-Modell) von Angebot und Nachfrage, weil dann Menschen mit seltenen, aber stark beeinträchtigenden Störungen keine Chance auf Hilfe hätten.
Zur Rechtfertigung einer solidarisch zu finanzierenden Therapie bietet sich etwa der handlungsreflexive Ansatz an, wie er von Alan Gewirth und Klaus Steigleder vorgelegt wurde. Den methodischen Ausgangspunkt dieser Moraltheorie bildet die Reflexion auf die notwendigen Bedingungen menschlicher Handlungsfähigkeit, ohne die sich ethische Fragen nach dem richtigen Handeln überhaupt nicht stellen würden (vgl. dazu Fenner 2007, 116ff.). Zu den grundlegendsten Voraussetzungen für freiwilliges und zielgerichtetes menschliches Handeln gehören Freiheit und „Elementargüter“ wie Leben, physische und psychische Integrität (vgl. Steigleder, 158f.). Als ethisch geboten lassen sich auf diese Weise zum einen medizinische Maßnahmen ausweisen, die das Überleben und die Intaktheit grundlegender physischer und psychischer Funktionen gewährleisten: Während lebensbedrohliche, Lebensfunktionen mindernde oder schmerzhafte Krankheiten klarerweise die physische Integrität beeinträchtigen, gefährden psychische Störungen wie Ängste oder Depressionen die psychische Integrität der Handlungssubjekte. Zum andern kann durch die gleichen Krankheiten sowohl die HandlungsfreiheitFreiheit aufgrund von Einschränkungen der körperlichen Bewegungsmöglichkeiten als auch die WillensfreiheitFreiheitWillens-, Autonomie (positive) oder Selbstbestimmung infolge verzerrter psychischer Funktionen des Wahrnehmens, Fühlens und Urteilens eingeschränkt werden (Kap. 2.3). Vor dem Hintergrund individuell sehr unterschiedlicher Lebensziele und -konzepte können sich zwar dieselben Krankheiten sehr unterschiedlich auf die Handlungsfähigkeit verschiedener Personen auswirken. So schränkt eine Mehlstauballergie einen Bäcker, nicht aber das Vorstandsmitglied einer Bank ein, und Probleme mit der Handsehnenscheide bedeuten für einen Berufsmusiker eine viel stärkere Beeinträchtigung als für einen Gesprächspsychotherapeuten (vgl. Bobbert, 430). Gemäß Norman DanielsDaniels, Norman Konzept des „normal functioning“ sollen Krankheiten aber unabhängig von solchen divergierenden Auswirkungen aufgrund unterschiedlicher Talente behandelt werden, damit allen Menschen ein normales Chancenspektrum zukommt: Gemeint ist die Gesamtheit aller Lebenspläne, die vernünftige Personen in einer bestimmten Gesellschaft zur jeweiligen Zeit wählen und von denen jedes Handlungssubjekt den zu seinen individuellen Fähigkeiten am besten passenden realisieren können soll (vgl. DanielsDaniels, Norman, 33f.). Letztlich ist die durch eine medizinische Grundversorgung zu schützende allgemeine „Handlungsfähigkeit“ also in der jeweiligen Gesellschaft zu konkretisieren, weil z.B. eine Dyslogie nur in einer litteralen Gesellschaft eine Beeinträchtigung der Arbeitsfähigkeit und Teilhabe am gesellschaftlichen Leben bedeutet (vgl. dazu BuchananBuchanan, Alan, 122f.). Die ethische Legitimität des Enhancements zu prüfen ist Aufgabe der kommenden Kapitel.
1.4 Wichtige Unterscheidungen und Positionen von Biokonservativen bis Transhumanisten
1.4.1 Elementare Differenzierungen von Verbesserungs-Handlungen
Kompensatorische – progrediente Verbesserungen
Für eine differenzierte Beurteilung der Selbstoptimierung sind neben der äußeren Abgrenzung gegenüber therapeutischen Maßnahmen noch einige Binnendifferenzierungen erforderlich. Das wichtigste begriffliche Gegensatzpaar ist dasjenige von „kompensatorischen“, d.h. „ausgleichenden“, und „progredienten“ oder „progressiven“ Verbesserungen (vgl. NagelNagel, Saskia u.a., 32/GesangGesang, Bernward, 70/FinkFink, Helmut, 15): Kompensatorisches EnhancementEnhancementkompensatorisches meint Verbesserungen menschlicher Eigenschaften oder Fähigkeiten, die unterdurchschnittlich ausgeprägt sind und auf ein „normales“ oder durchschnittliches Niveau in einer Gesellschaft angehoben werden. Strenggenommen ist die Begriffsfügung „kompensatorisches Enhancement“ jedoch widersprüchlich, nachdem oben das „Enhancement“ als biomedizinische Verbesserung des menschlichen Organismus über ein bestimmtes Maß an Normalität oder normalem Funktionieren eines Menschen hinaus definiert wurde (Kap. 1.1). In einem engen oder eigentlichen Sinn wäre nur das in der Debatte zumeist im Zentrum stehende „progressive“ oder progrediente Enhancement überhaupt ein „Enhancement“, weil es sich nur bei diesem um eine Steigerung über das Normalmaß hinaus handelt. Wird das Adjektiv „kompensatorisch“ statt mit dem Neologismus „Enhancement“ mit den allgemeineren Begriffen einer prozessual verstandenen „Verbesserung“ oder „Selbstoptimierung“ kombiniert, verschwindet zwar der begriffliche Widerspruch, aber die Grenze zur Therapie verwischt. Denn