Stefan Neuhaus

Der Krimi in Literatur, Film und Serie


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und die Barbarei meiner Wächter hatte mir auch meinen Hund abgeschlagen. Die Arbeit war hart und tyrannisch, mein Körper kränklich, ich brauchte Beistand, und wenn ichs aufrichtig sagen soll, ich brauchte Bedaurung, und diese mußte ich mit dem letzten Überrest meines Gewissens erkaufen. So gewöhnte ich mich endlich an das Abscheulichste, und im letzten Vierteljahr hatte ich meine Lehrmeister übertroffen.

      Von jetzt an lechzte ich nach dem Tag meiner Freiheit, wie ich nach Rache lechzte. Alle Menschen hatten mich beleidigt, denn alle waren besser und glücklicher als ich. Ich betrachtete mich als den Märtyrer des natürlichen Rechts und als ein Schlachtopfer der Gesetze.“ (Schiller 1993b, 18)

      Hier wird bereits eindrücklich zu einer Zeit, in der überhaupt erst der moderne Strafvollzug entsteht, die Möglichkeit zur Resozialisierung eingefordert. Wie unzeitgemäß dies sogar heute noch sein kann, zeigt ein Blick auf den Strafvollzug in anderen Ländern, darunter auch in den USA. Wolfs Rückkehr in seinen Heimatort macht deutlich, dass er nicht nur geächtet wird, sondern auch, dass ihm nichts mehr geblieben ist. Niemand, den er einst kannte, ist noch bereit, ihn zu grüßen. ‚Seine‘ Johanne hat sich durch Prostitution in „die verworfenste Kreatur“ verwandelt. Seine Mutter ist gestorben und das Häuschen gepfändet: „Ich hatte niemand und nichts mehr“ (Schiller 1993b, 20). Wolfs Entschluss steht fest: „Ich wollte mein Schicksal verdienen“ (Schiller 1993b, 21).

      Immer noch ist damit die Wilddieberei gemeint, der er ohne schlechtes Gewissen nachgeht, zumal es keine andere Möglichkeit des Überlebens mehr für ihn gibt. Durch eine zufällige Begegnung wird er nun erst zum wahren Verbrecher – zum Mörder. Er sieht im Wald seinen früheren Nebenbuhler, „den Jäger Robert“ (ebd.). Er erschießt ihn, nicht ohne vom Erzähler durch die Schilderung der Tat implizit mildernde Umstände zugebilligt zu bekommen:

      „Eine unsichtbare fürchterliche Hand schwebte über mir, der Stundenweiser meines Schicksals zeigte unwiderruflich auf diese schwarze Minute. Der Arm zitterte mir, da ich meiner Flinte die schreckliche Wahl erlaubte – meine Zähne schlugen zusammen wie im Fieberfrost, und der Odem sperrte sich erstickend in meiner Lunge. Eine Minute lang blieb der Lauf meiner Flinte ungewiß zwischen dem Menschen und dem Hirsch mitten inne schwanken – eine Minute – und noch eine – und wieder eine. Rache und Gewissen rangen hartnäckig und zweifelhaft, aber die Rache gewanns, und der Jäger lag tot am Boden.“ (Schiller 1993b, 21f.)

      Die Schilderung zeigt, dass sich Christian Wolf im Moment der Tat gar nicht bewusst ist, was er tut, und dass er erst im Angesicht des Toten beginnt, seine neue, viel größere Schuld zu realisieren. Und noch einmal wird deutlich, dass er seine Tat nicht bewusst und mit Vorsatz ausgeführt hat:

      „Etwas ganz besonders Schreckbares lag für mich in dem Gedanken, daß von jetzt an mein Leben verwirkt sei. Auf mehreres besinne ich mich nicht mehr. Ich wünschte gleich darauf, daß er noch lebte. Ich tat mir Gewalt an, mich lebhaft an alles Böse zu erinnern, das mir der Tote im Leben zugefügt hatte, aber sonderbar! mein Gedächtnis war wie ausgestorben. Ich konnte nichts mehr von alle dem hervorrufen, was mich vor einer Viertelstunde zum Rasen gebracht hatte. Ich begriff gar nicht, wie ich zu dieser Mordtat gekommen war.“ (ebd.)

      Selbst in diesem Moment der größten Schuld – immerhin hat er einem Menschen das Leben genommen – versucht Wolf, Reste von Anstand zu bewahren:

      „Unwillkürlich verlor ich mich tiefer in den Wald. Auf dem Wege fiel mir ein, daß der Entleibte sonst eine Taschenuhr besessen hätte. Ich brauchte Geld, um die Grenze zu erreichen – und doch fehlte mir der Mut, nach dem Platze umzuwenden, wo der Tote lag. Hier erschreckte mich ein Gedanke an den Teufel und eine Allgegenwart Gottes. Ich raffte meine ganze Kühnheit zusammen; entschlossen, es mit der ganzen Hölle aufzunehmen, ging ich nach der Stelle zurück. Ich fand, was ich erwartet hatte, und in einer grünen Börse noch etwas weniges über einen Taler an Gelde. Eben da ich beides zu mir stecken wollte, hielt ich plötzlich ein und überlegte. Es war keine Anwandlung von Scham, auch nicht Furcht, mein Verbrechen durch Plünderung zu vergrößern – Trotz, glaube ich, war es, daß ich die Uhr wieder von mir warf und von dem Gelde nur die Hälfte behielt. Ich wollte für einen persönlichen Feind des Erschossenen, aber nicht für seinen Räuber gehalten sein.“ (Schiller 1993b, 23)

      Nun wird der „Sonnenwirt“ (Schiller 1993b, 25) auch Mitglied und sogar Anführer einer Räuberbande (Schiller 1993b, 28) – ähnlich wie Karl Moor in Schillers erstem Drama Die Räuber von 1981, dessen Verhalten ebenfalls durch die Umstände motiviert erscheint und der letztendlich erfolglos versucht, ein ‚edler‘ Räuber zu werden. Die Begegnung Wolfs mit einem ‚wilden Mann‘ (Schiller 1993b, 24), die Bemerkung: „In dem Zustande, worein ich versunken war, hätte ich mit dem höllischen Geiste Kameradschaft getrunken, um einen Vertrauten zu haben“ (Schiller 1993b, 25), der „Abgrund“, in dem die Räuberbande haust (Schiller 1993b, 26) und weitere Anspielungen deuten auf einen Teufelspakt. Doch führt gerade das Räuberleben bei dem ‚Verbrecher aus verlorener Ehre‘ zu einem immer stärker werdenden Gefühl von „Reue“ (Schiller 1993b, 30) und er beschließt, den Ausbruch des Siebenjährigen Krieges für einen letzten Versuch der Rückkehr in die gesellschaftliche Ordnung zu nutzen:

      Der Unglückliche schöpfte Hoffnung von diesem Umstand und schrieb einen Brief an seinen Landesherrn, den ich auszugsweise hier einrücke:

      „Wenn Ihre fürstliche Huld sich nicht ekelt, bis zu mir herunterzusteigen, wenn Verbrecher meiner Art nicht außerhalb Ihrer Erbarmung liegen, so gönnen Sie mir Gehör, durchlauchtigster Oberherr. Ich bin Mörder und Dieb, das Gesetz verdammt mich zum Tode, die Gerichte suchen mich auf – und ich biete mich an, mich freiwillig zu stellen. Aber ich bringe zugleich eine seltsame Bitte vor Ihren Thron. Ich verabscheue mein Leben und fürchte den Tod nicht, aber schrecklich ist mirs zu sterben, ohne gelebt zu haben. Ich möchte leben, um einen Teil des Vergangenen gutzumachen; ich möchte leben, um den Staat zu versöhnen, den ich beleidigt habe. Meine Hinrichtung wird ein Beispiel sein für die Welt, aber kein Ersatz meiner Taten. Ich hasse das Laster und sehne mich feurig nach Rechtschaffenheit und Tugend. Ich habe Fähigkeiten gezeigt, meinem Vaterland furchtbar zu werden, ich hoffe, daß mir noch einige übrig geblieben sind, ihm zu nützen.“ (Schiller 1993b, 30)

      Doch wird der Fürst nicht „Gnade für Recht ergehen“ lassen (Schiller 1993b, 31). Wolf bekommt keine Antwort, auch nicht auf weitere Bittschriften und er verlässt die Räuberbande, um „aus dem Land zu fliehen und im Dienste des Königs von Preußen als ein braver Soldat zu sterben“ (Schiller 1993b, 31). Unterwegs wird er in einer „kleine[n] Landstadt“ (ebd.) durch eine Passkontrolle aufgehalten und macht schließlich einem „Richter“, der ihn „mit ziemlich brutalem Ton“ ausfragt (Schiller 1993b, 33), das Geständnis seiner wahren Identität, denn: „Ich glaube, daß Sie ein edler Mann sind“ (Schiller 1993b, 34).

      Mit Wolfs Worten „Ich bin der Sonnenwirt“ (Schiller 1993b, 35) endet die Erzählung. Doch wissen die Leser*innen durch deren Anfang bereits, dass es für Christian Wolf kein Happy End geben wird – anders als am Schluss von Wilhelm HauffHauff, Wilhelms Märchen-Almanach Die KarawaneDie Karawane (1825), der mit dem intertextuell auf Schillers Erzählung verweisenden Geständnis endet: „Man nennt mich den Herrn der Wüste; ich bin der Räuber Orbasan“ (Hauff 1981, 684). Selim Baruch alias Orbasan ist ein Beispiel für gelungene Resozialisierung und offenbart mit dem positiven Beispiel einer mehrfach als ‚fremd‘ markierten Figur die Defizite einer späteren Zeit (Neuhaus 2017, 88b).

      Schillers kurze Erzählung hat, das kann hier nur angedeutet werden, eine kaum zu überschätzende Wirkung entfaltet. Sie ist unzeitgemäß modern, auch durch die verwendeten Techniken, die viel weiter gehen als die sonst bekannten und verbreiteten Schriften über Kriminalfälle: „Ihre besondere Wirkung entfaltet Schillers ‚wahre Geschichte‘ zumal durch die Technik des Perspektivwechsels, die es gestattet, neben der Stimme des Erzählers auch jene Christian Wolfs zu Gehör zu bringen“ (Alt 2009, 521). So etwas war im Kontext der Zeit unerhört.

      4.3 Der Einbruch von Kontingenz: Theodor Fontanes Unterm Birnbaum (1891)

      Die 1890 in der populären Zeitschrift Die Gartenlaube gekürzt vorabgedruckte und 1891 in Buchform erschienene