Udo Schnelle

Die ersten 100 Jahre des Christentums 30-130 n. Chr.


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entwickelte allegorische Auslegungsmethode auf die jüdische Bibel an, um so vor allem die anstößigen Anthropomorphismen zu bewältigen. Er ruft dazu auf, den einen und wahren Gott zu verehren und nach einem Leben in Frömmigkeit und Tugend zu streben. Dabei erscheint vor allem die Tora als der wahre Weg zur Tugend und Glückseligkeit und Mose als großer Philosoph und Lehrer113 eines gottgefälligen Lebens. Gottes Werke sind wohl in der Schöpfung und in der Lenkung des Kosmos zu erkennen, aber Gott selbst wird als rein geistiges Sein gedacht. So kommentiert Philo das Verbot, Götter aus Silber oder Gold zu machen, folgendermaßen: „denn wer meint, dass Gott Beschaffenheit habe, oder wer Gottes Einheit leugnet oder bestreitet, dass er ungeworden, unvergänglich und unwandelbar sei, der begeht Unrecht gegen sich selbst, nicht gegen Gott, wie es heißt: ‚machet euch nicht‘. Denn man muss an seine Gestaltlosigkeit, Einheit, Unvergänglichkeit und Unwandelbarkeit glauben; wer nicht also gesinnt ist, erfüllt seine Seele mit lügnerischem und gottlosem Wahn“ (Legum Allegoriarum I 51). Philo versteht sich bei seiner Aufnahme (vor allem) der Stoa und des „hochheiligen Plato“114 als ein legitimer Interpret der jüdischen Überlieferung für seine Zeit.

      Der bedeutendste Mittelplatoniker war zweifellos Plutarch von Chaironeia115. Plutarch vereinigt in seiner Person alle bedeutenden Bildungstraditionen seiner Zeit. Er betrieb in seinem griechischen Heimatort eine philosophische Schule, hatte Kontakt zu namhaften Philosophen seiner Zeit, unternahm Reisen (z.B. nach Rom und Ägypten) und war ca. 20 Jahre lang einer der beiden Hauptpriester von Delphi. Er versuchte die griechische Religion wieder neu zu beleben, hatte weitgestreute kulturgeschichtliche Interessen und vollzog in seinen Doppelbiographien die Synthese von griechischem Geist und römischer Macht.

      Paganer Monotheismus

      Die starke Betonung der absoluten Transzendenz und Andersartigkeit Gottes, sein kategoriales Geschiedensein von allem Menschlichen und damit sein Entschwinden in eine unnahbare Ferne sind charakteristisch für die negative Theologie des Mittelplatonismus, speziell für sein Gottesbild116, das bei Plutarch so formuliert wird: „Was ist nun wirklich seiend? Das Ewige und Ungewordene und Unvergängliche, dem auch keine Zeit Veränderung bewirkt“ (Delphi 19). Für Plutarch sind Gott/die Götter die einzige der Zeit und dem Werden entnommene Wirklichkeit, sie stehen jenseits der Bewegung, des Werdens und Vergehens. Mit der Transzendenz Gottes verbindet sich deutlich eine Tendenz zum Monotheismus bei Plutarch117: Die Gottheit wird zwar bei den verschiedenen Völkern jeweils anders genannt, dennoch ist sie für alle Menschen dieselbe: „So gibt es einen Logos (images), der den Kosmos ordnet, und eine Vorsehung, die dies leitet, und helfende Kräfte, die für alles eingeteilt sind.“118

      Mittlergestalten

      Das Konzept der einen, absolut transzendenten Gottheit musste die Frage aufwerfen, wie eine Kommunikation zwischen Gott und Mensch überhaupt möglich ist. Plutarch bestimmt Mittlerwesen, die den Kontakt zu den wahren Gottheiten halten und eine für die Menschen unabdingbare Funktion wahrnehmen. Er verdeutlicht es am Isis-Osiris-Mythos: „Aus diesem Grunde tut man wohl am besten, wenn man alles, was von Typhon, Osiris und Isis erzählt wird, nicht für Begebenheiten einiger Götter oder Menschen, sondern gewisser großer Geister (images) hält, welche, wie auch Plato, Pythagoras, Xenokrates und Chrysipp mit den alten Theologen übereinstimmend behaupten, zwar stärker sind als Menschen und von Natur aus eine größere Macht besitzen als wir, aber auf der anderen Seite auch nicht eine ganz reine und unvermischte Gottheit, sondern so wie wir eine Seele und einen Körper haben, die Vergnügen und Schmerz empfinden können ... Und Plato nennt diese Art von Dämonen Dolmetscher und Mittelpersonen zwischen den Göttern und Menschen, die die Wünsche und Gebete der Sterblichen vor die Gottheit tragen und von da Prophezeiungen und gute Gaben zurückbringen“ (De Iside et Osiride 360.361). Das Konzept göttlicher Mittlerwesen und die Tendenz zum Monotheismus bei Plutarch lassen erkennen, wie es auch für Menschen aus dem genuin griechisch-römischen Kulturbereich möglich war, einen Zugang zu der neuen Religion der Christen zu finden.

      Innerhalb der Ethik zeigt sich Plutarch als Philanthrop; er möchte die Menschen zur Überwindung der Begierden und zur tätigen Übung der Tugenden führen, um sie so von allen falschen Vorstellungen zu befreien. Deshalb gibt er Ratschläge auf fast allen Gebieten der Ethik, vom Fürstenspiegel bis hin zur Kindererziehung. Wahre Gottesfreunde sind nach Plutarch die Menschen dann, „wenn ihr geläuterter Sinn in Gott den Urquell alles Guten, den Vater alles Schönen erkennt, ihn, der Böses weder tun noch leiden kann. Er ist gut, und er weiß nichts von Missgunst, Furcht, Zorn und Hass“119. Gott gibt in der Vernunft/dem Logos Anteil an seiner Gerechtigkeit, Wahrheit und Milde und befähigt so die Menschen, sich dem Guten zuzuwenden.

      Die antike Philosophie war immer auch eine Form paganer Theologie; die Götter galten als die Garanten und Begleiter menschlichen Lebens. Um die Zeitenwende herum dominierte eine therapeutische Philosophie/Theologie, die darauf abzielte, den Menschen die Meisterung des Schicksals zu ermöglichen. Als Lebensform und Technik des Glücklichseins, als Wissenschaft vom Leben120 kommt es der Philosophie darauf an, die im Menschen vorhandenen Tugenden zu wecken bzw. die Einsicht des Menschen zu fördern, sich an diesen Tugenden zu orientieren. So soll die Seele zu sich selbst zurückgeführt werden, indem sie fremde Ansprüche und falsche Wünsche abweist. Um wirklich glücklich, reich und frei zu sein, begnügt sich der Weise mit der Tugend. So wird die Philosophie zu einem Heilmittel, um gut zu leben und gut zu sterben. Schon hier wird deutlich: Die Nachfolger des Sokrates und die Nachfolger des Jesus von Nazareth praktizierten einen vergleichbaren Lebensstil, traktierten vergleichbare Themen und produzierten vergleichbare Literatur.

      EMIL SCHÜRER, Geschichte des jüdischen Volkes im Zeitalter Jesu Christi I–III, Leipzig 41901– 1911 (Nachdrucke). Engl. Neubearbeitung hg. v. Geza Vermes/Fergus Millar/Matthew Black, Edinburgh I–III 1973–1987. – LEO BAECK, Das Wesen des Judentums, Gütersloh 1998 (= 1905). – GEORGE F. MOORE, Judaism in the first Centuries of the Christian Era I–III, Cambridge 1927–1930. – MARTIN HENGEL, Judentum und Hellenismus, WUNT 10, Tübingen 21969. − ARYE BEN-DAVID, Talmudische Ökonomie, Hildesheim 1974. − GÜNTER STEMBERGER, Geschichte der jüdischen Literatur, München 1977. – DERS., Das klassische Judentum, München 1979. – HAIM HILLEL BEN-SASSON (Hg.), Geschichte des jüdischen Volkes I, München 21981. – JACOB NEUSNER, Judentum in frühchristlicher Zeit, Stuttgart 1988.– JOHANN MAIER, Zwischen den Testamenten, NEB.AT EB 3, Würzburg 1990. – GÜNTER STEMBERGER, Pharisäer, Sadduzäer, Essener, SBS 144, Stuttgart 1991. − HARTMUT STEGEMANN, Die Essener, Qumran, Johannes der Täufer und Jesus, Freiburg 102007. – WERNER ECK, Rom und Judäa, Tübingen 2007. – MARTIN HENGEL/ANNA MARIA SCHWEMER, Jesus und das Judentum, 39–168. − KENNETH C. HANSON/DOUGLAS E. OAKMAN, Palestine in the Time of Jesus. Social Structures and Social Conflicts, Minneapolis 22008. − PETER SCHÄFER, Geschichte der Juden in der Antike, Tübingen 22010. – RICHARD A. HORSLEY, Revolt of the Scribes, Minneapolis 2010. − MARKUS TIWALD, Das Frühjudentum und die Anfänge des Christentums, 53-200.

      Monotheismus, Erwählung, Tora und Tempel

      Als Oberbegriff benennt ‚Judentum‘121 die mit der Eroberung Babylons durch die Perser (539 v.Chr.) beginnende Geschichte Judas (zugleich idealtypisch: Israel) und der jüdischen Diaspora unter den militärisch-kulturellen Fremdmächten der Perser, Griechen und Römer122. Unter Darius I. wurden um 520 v.Chr. in der persischen Provinz Jehud neue Verwaltungs- und Wirtschaftsformen geschaffen, in deren Rahmen in mehreren Etappen eine Rückkehr von Exilanten aus dem Exil erfolgte. Der Tempel wurde wieder aufgebaut (ca. 520–515 v.Chr.) sowie Sozial-