Werner Suter

Ökologie der Wirbeltiere


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Ausbreitung der Arve bei, welche der Baum selbst nicht leisten könnte (Mattes 1982; dazu auch Pesendorfer et al. 2016).

      Wie schon kurz erwähnt wurde, ist auch das externe Speichern von Nahrung mit Kosten verbunden. Die damit verbundenen Leistungen und Probleme sind intensiv und vor allem an Vögeln studiert worden. Kleine Arten wie Meisen verstecken Nahrung nur für kurze Zeit und holen sie nach Stunden bis wenigen Tagen wieder, offenbar als Strategie zum Überleben kalter Winternächte. Entsprechend können sie sich bis etwa 28 Tage an die Stellen erinnern, wo Samen versteckt sind. Häher belassen die Samen jedoch über Wochen oder gar Monate in den Verstecken. Im Experiment konnten sich nordamerikanische Kiefernhäher (Nucifraga columbiana) bis über 280 Tage an die Stellen erinnern (Balda & Kamil 1992); im Freiland waren es beim eurasischen Tannenhäher etwa 150 Tage. Meist geht es um riesige Mengen gehorteter Samen. Kiefern- und Tannenhäher können bis zu 98 000 Samen an 7 700 Stellen respektive 172 000 Samen an 9 500 Stellen deponieren. Meisen sind nach verschiedenen Untersuchungen imstande, bis zu 170 000 Samen einzeln zu verstecken (Brodin 2005). Bei der Suche erreichen manche Arten hohe Wiederfundraten, wobei die Raten mit zunehmender Versteckdauer abnehmen (Balda & Kamil 1992). Solche kognitiven Leistungen benötigen entsprechende neuronale Strukturen, die sich offenbar in einem vergrößerten Hippocampus, der für das räumliche Erinnerungsvermögen zuständigen Gehirnregion, niederschlagen (Krebs J. R. 1990; Lucas et al. 2004). Allerdings dürfte die Größe allein noch kein aussagekräftiges Maß für die benötigten Hirnleistungen sein (Raby & Clayton 2010). Jedenfalls sind energetische Investitionen vonnöten, doch muss externes Speichern von Nahrung in vielen Fällen kostengünstiger sein als eine interne Lösung über Fettanlagerung, damit es sich als Strategie evolutiv durchsetzen konnte. Eine Übersicht über entsprechende Modelle präsentieren Brodin & Clark (2007).

      Aus dem Samenverstecken durch Tiere haben sich nicht nur koevolutive Beziehungen zwischen dem Verhalten, den Gedächtnisleistungen und der Entwicklung von Gehirnstrukturen ergeben, sondern auch solche zwischen Tier und Pflanze (Pravosudov & Smulders 2010). Eines der bekanntesten, im Detail aber noch wenig untersuchten Beispiele ist jenes der Beziehung zwischen Tannenhäher und Arve (Pinus cembra), deren Keimerfolg und Ausbreitung fast gänzlich vom Samenhorten des Tannenhähers abhängt (Abb. 3.13). Pflanzen haben sich offenbar in mehrerer Hinsicht derart angepasst, dass das Samenhorten gefördert wird, unter anderem auch mit der Produktion von fast geruchlosen Samen, die schlecht gefunden werden können, nachdem sie versteckt wurden (Vander Wall 2010).

      Viele Beispiele in diesem Kapitel bezogen sich auf nahrungssuchende Tiere, die diskret im Raum verteilte Beutestücke – mobile wie immobile – aufnehmen. Herbivoren im engeren Sinne, das heißt, Konsumenten grüner Pflanzenteile, finden ihre Nahrung hingegen meist in größerer Quantität und flächig verteilt; ihr Problem ist dabei, jene Pflanzen herauszugreifen, die einen genügend hohen Gehalt an nutzbarem Protein, relativ gute Verdaulichkeit und möglichst geringe Toxizität aufweisen (Kap. 2.2). Es geht also weniger um das kurzzeitige Maximieren der Energieaufnahme als um das Optimieren in Form einer spezifischen Nahrungszusammensetzung. Diese eigene Situation der Herbivoren, die sich stark an ernährungsphysiologischen Einschränkungen zu orientieren hat, ist im vorliegenden Kapitel bisher nur am Rande gestreift worden. Im Rahmen einer kleinen Synthese wird deshalb die Nahrungssuche von Herbivoren nochmals gesondert betrachtet. Die Problematik lässt sich in vier Hauptfragen gliedern (Newman J. 2007): Was frisst das Tier, wie schnell, wie lange, und wo frisst es. Damit sind die Nahrungswahl, die Aufnahmerate, der zeitliche Aufwand und die räumlichen Aspekte der Nahrungssuche angesprochen. Oft lassen sich die Fragen nicht unabhängig voneinander beantworten, und immer spielen einschränkende physiologische Rahmenbedingungen eine Rolle. Diese gehen letztlich darauf zurück, dass qualitatives und quantitatives Angebot bei pflanzlicher Nahrung oft umgekehrt zueinander proportional sind.

      Im Vergleich zu Prädatoren verwenden Herbivoren wenig Zeit auf die Nahrungssuche, viel jedoch auf die Nahrungsaufnahme und Verdauung. Da zudem die Nahrung nicht in Form von diskreten Stücken vorliegt, sind die Konzepte Suchzeit und Antreffhäufigkeit von geringer Relevanz. Geht man davon aus, dass Herbivore dennoch in irgendeiner Form eine Optimierung anstreben, so stehen drei Möglichkeiten im Vordergrund (Stephens D. W. & Krebs 1986):

      1. Maximieren der Aufnahmerate, entweder der kurzfristigen Bruttoaufnahmerate von Biomasse oder der längerfristigen Nettoaufnahmerate von Nährstoffen. Diese berücksichtigt die Einschränkungen, die der Nährstoffgehalt der Nahrung und die Form und Funktionsweise des Verdauungstrakts auferlegen. Im Speziellen können die Aufnahme von Energie, Protein, Natrium oder die Verdauungsgeschwindigkeit maximiert werden. Modelle zeigen, dass Herbivoren bei geringem Angebot Pflanzen wählen sollten, die eine kurze Bearbeitungszeit benötigen, um damit die Bruttoaufnahmerate zu steigern. Bei Überfluss hingegen sollten sie selektiv hoch verdauliche Pflanzen herausgreifen, um eine höhere Verdauungsgeschwindigkeit zu erreichen und damit die Nettoaufnahmerate zu vergrößern (Hirakawa 1997). Wie Herbivoren unter einschränkenden Bedingungen einen Kompromiss bei der Nahrungszusammensetzung erreichen können, ist bereits in Kapitel 3.3 behandelt und am Beispiel von Elch und Ziesel illustriert worden. Oft ist übrigens die Maximierung der Nettoaufnahmerate von Rohprotein von größerer Fitnessrelevanz als die Maximierung des Energiegewinns (Newman J. 2007).

      2. Eine Balance in Form der Wahl komplementärer Nährstoffe anstreben. Eine solche Strategie setzt letztlich das Erkennen einzelner Nährstoffe respektive von deren Bedarf und Mangel voraus. Dies ist als nutritional wisdom bezeichnet worden, doch ist das Erkennen nur für Kalzium und Natrium nachgewiesen (Kap. 2.2). Gezielte Nahrungswahl nach Kriterien der Nährstoffbalance ist sowohl im Experiment als auch bei Freilandstudien schwierig zu demonstrieren, aber bei Arthropoden belegt. Oft sind die Ergebnisse von Untersuchungen an großen Herbivoren aber mit weitaus einfacheren Hypothesen, etwa simplen Faustregeln wie «Friss vor allem junge Pflanzentriebe» (fresh flush), genauso kompatibel (Cassini 1991).

      3. Die Aufnahme toxischer oder verdauungshemmender Sekundärstoffe minimieren. Die Lernfähigkeit von Herbivoren zur Vermeidung toxisch wirkender Pflanzen ist recht gut ausgebildet; zudem können viele Herbivoren mithilfe spezifischer Drüsen toxische Komponenten selbst relativ gut neutralisieren oder deren Wirksamkeit durch geeignete Zusammensetzung der Nahrung und die zeitliche Dosierung herabsetzen. Insgesamt sind aber die Strategien der Herbivoren im Umgang mit Sekundärstoffen noch ungenügend verstanden (du Toit et al. 1991; Duncan A. J. & Gordon 1999; Foley et al. 1999; Torregrossa & Dearing 2009).

      Außer den ernährungsphysiologischen Einschränkungen sehen sich Herbivoren zahlreichen umweltbedingten constraints gegenüber, welche die Nahrungssuche und Wahl der Nahrung beeinflussen. Neben der Qualität muss ja auch die Abundanz der Nahrung berücksichtigt werden, wenn die Nettoaufnahmerate maximiert werden soll. Dafür spielen die strukturellen Eigenschaften der Vegetation, wie Höhe, Dichte und die vertikale Verteilung der Biomasse, eine wichtige Rolle (Illius & Gordon 1993). Die meisten Landschaften sind bezüglich der Vegetationsstruktur sehr heterogen, und selbst einförmig wirkende Steppen können auf kleinem Raum unterschiedliche Muster in der Pflanzenqualität, Biomasse und Vegetationsstruktur aufweisen. Heterogenität kann also auf verschiedenen räumlichen Maßstäben (Skalen) evident sein, und Herbivoren treffen ihre Entscheidungen über Ort und Dauer der Nahrungssuche entsprechend. Es können nach Bailey & Provenza (2008) folgende Einheiten unterschieden werden (deutsche Bezeichnungen dafür sind nicht gebräuchlich):

      1. Bite: Die kleinste räumliche Einheit ist ein Zweig, eine Einzelpflanze oder sogar ein kleiner Grasbüschel, der mit einem Biss geerntet werden können. Die Entscheidung eines Herbivoren, bei einer bestimmten Pflanze zuzubeißen, betrifft also eine Fläche von 1–100 cm2, je nach der Körpergröße und der Morphologie seiner Kiefer. Da Herbivoren jeden Tag 10 000–40 000 Mal zubeißen müssen (Illius & Gordon 1993), liegt die zeitliche Maßstabgröße für den