Werner Suter

Ökologie der Wirbeltiere


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damit erklären, dass für sie die Antreffrate und der Fangerfolg wichtiger sind als die eigene Variation im Entscheidungsverhalten. Bei Arten, die unbewegliche Nahrung aufnehmen (etwa Herbivoren, Nektarfressern oder den Beispielen der muschelfressenden Vögel), ist die realisierte Nahrung hingegen viel eher das Ergebnis der eigenen Entscheidungen. Tatsächlich entsprachen 21 von 26 der in Sih & Christensen (2001) ausgewerteten Studien an Vögeln und Säugetieren mit nicht beweglicher Nahrung zumindest in qualitativer Hinsicht den Erwartungen.

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      Abb. 3.4 Vorgehen der Sundkrähe beim Aufbrechen der Stachelschnecken (Abbildung neu gezeichnet nach Zach 1979). Die Kurven zeigen die Zahl der notwendigen Abwürfe, um kleine, mittelgroße und große Schnecken bei verschiedenen Fallhöhen zu zerbrechen. Die Krähen suchen sich nur große Schnecken aus und werfen sie im Mittel von 5,2 m Höhe aus ab (Pfeil). Damit minimieren sie die totale Steighöhe (Zahl der Flüge x Höhe); hätten sie jedoch die Nettoaufnahmerate an Energie maximiert, so wären wesentlich größere Fallhöhen von etwa 20 m notwendig gewesen (Plowright et al. 1989). Die Abweichung von der theoretischen Optimierung mag damit zu tun haben, dass bei größeren Fallhöhen Schnecken eher verloren gehen (Zach 1979). Graben die Sundkrähen hingegen Muscheln aus, so verschmähen sie die kleineren unter den ausgegrabenen Individuen und öffnen und verzehren nur die größeren ab etwa 24 mm Länge; sie erreichen so die maximal mögliche Nettoaufnahmerate an Energie (Richardson & Verbeek 1986).

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      Abb. 3.5 Austernfischer (Haematopus ostralegus) fressen Herzmuscheln, indem sie deren Schale aufhacken. Beim Bearbeiten größerer Individuen verletzen sie ihre Schnabelspitze, wodurch sie später weniger effizient sind; bei kleineren Muscheln bleibt der Schnabel intakt. Links: Die obere graue Linie zeigt die Profitabilität als Funktion der Schalengröße ohne Berücksichtigung späterer Behinderung, die gestrichelte schwarze Linie die Profitabilität, wenn die Verletzungsgefahr bei allen Muschelgrößen als 1 angenommen wird, und die ausgezogene schwarze Linie die Profitabilität unter Berücksichtigung der tatsächlichen Verletzungsrate. Es ergibt sich eine optimale Profitabilität genau in dem Größenbereich, aus dem die Austernfischer die Herzmuscheln bevorzugt auswählen (senkrechter Balken) (Abbildung neu gezeichnet nach Rutten et al. 2006).

      Die Übereinstimmung von Testresultaten und Theorie setzt auch voraus, dass die Studien die Grenzen oder constraints berücksichtigen, die Kosten verursachen und die Tiere in den Entscheidungen bei der Nahrungssuche einschränken. Einschränkungen im Sinne von Kosten beim Handling haben wir am Beispiel der Sundkrähen kennengelernt. Oftmals sind die constraints aber nicht unmittelbar offenkundig. So können versteckte Kosten in Form von Verletzungsgefahr auftreten, etwa beim Bearbeiten von hartschaligen Mollusken (Abb. 3.5). Für viele Prädatoren ist die Verletzungsgefahr beim Überwältigen von größerer Beute von ernst zu nehmender Bedeutung. Der Leopard (Panthera pardus) erbeutet zwar eine breite Palette von Arten und ist auch imstande, große Beute (bis zu 200 kg) zu schlagen, konzentriert sich aber auf kleinere, wenig wehrhafte Arten (10–40 kg, oft um 25 kg). Als Einzeljäger kann er im Gegensatz zu sozial jagenden Arten wie Löwe oder Afrikanischem Wildhund (Lycaon pictus) bei Verletzungen nicht darauf zählen, vom Rudel unterstützt zu werden (Hayward M. W. et al. 2006). Löwen erbeuten daher auch, gemessen an der eigenen Körpermasse, wesentlich größere Beute im präferierten Bereich von 200–350 kg (Hayward M. W. & Kerley 2005). Allerdings ließ sich für obligate Carnivoren verschiedener Körpergröße zeigen, dass die Profitabilität einer Beute oberhalb des 1,9-Fachen der eigenen Körpermasse nicht mehr zunimmt (Chakrabarti et al. 2016).

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      Abb. 3.6 Modellierte und tatsächliche Nahrungszusammensetzung beim Elch. Die Nahrungszusammensetzung wird über die Mindestbedürfnisse an Natrium und Energie sowie die maximale Pansenkapazität eingegrenzt. Wasserpflanzen sind reich an Natrium, aber relativ energiearm; sie sind deshalb bei gleichem Energiegehalt «sperriger» als die energiereicheren terrestrischen Arten. Eine energetisch ausreichende Nahrungsmenge aus ausschließlich Wasserpflanzen würde die Pansenkapazität überschreiten, eine solche ausschließlich aus terrestrischen Pflanzen würde nicht genügend Natrium liefern. Die mittels linearer Programmierung modellierte Option für die Nahrungszusammensetzung liegt im schraffierten Bereich. Die tatsächlich durch den Elch im Mittel realisierte Nahrungswahl wird durch den * markiert und liefert unter den gegebenen Einschränkungen die höchstmögliche Energiemenge pro Tag (Abbildung neu gezeichnet nach Belovsky 1978).

      Einschränkungen sind oft auch in den physiologischen oder morphologischen Adaptationen des nahrungssuchenden Tieres selbst begründet. Besonders den Herbivoren sind durch spezifische physiologische Rahmenbedingungen und Eigenheiten ihres Verdauungstrakts enge Grenzen gesetzt, wie am Beispiel von sehr unterschiedlichen Arten mittels linearer Programmierung gezeigt werden konnte. Elche (Alces alces) haben über die Nahrung nicht nur den Energiebedarf, sondern auch einen bestimmten Mindestbedarf an Natrium zu decken. Sie können wegen des beschränkten Aufnahmevermögens des Pansens aber nicht ad libitum Nahrung zu sich nehmen und müssen deshalb eine Balance zwischen natriumreichen Wasserpflanzen und energiereichen terrestrischen Pflanzen finden (Belovsky 1978; Abb. 3.6). Beim nordamerikanischen Columbia-Ziesel (Urocitellus columbianus) sind die Grenzen, welche die möglichen Anteile von Gras und anderen Pflanzen in der Nahrung bestimmen, ebenfalls durch die Verdauungskapazität und den minimalen Energiebedarf gegeben; als dritte Einschränkung wirkt die zur Verfügung stehende Zeit. Alle untersuchten Ziesel versuchten, die Energieaufnahme zu maximieren, doch wichen über ein Drittel der Individuen vom optimalen Modell ab, vermutlich mit negativen Konsequenzen für ihre Fitness (Ritchie 1988).

      Das Beispiel des Elchs illustriert deutlich, dass Modelle, die allein auf die Aufnahme von Energie als currency abstellen, zu kurz greifen können. Gewisse Primatenarten optimieren ihre Nahrung dahin, dass eine konstante Proteinzufuhr gewährleistet ist, während die Energieaufnahme schwanken darf (Felton et al. 2009). Frugivore Vögel maximieren durch ihre Nahrungszusammensetzung zwar auch die Energiezufuhr, sind darüber hinaus aber imstande, feine Unterschiede in Zucker- und Fettkonzentrationen von 1–2 % wahrzunehmen. Sie selektieren bei isokalorischen Alternativen entsprechend ihren weiteren Bedürfnissen an Nährstoffen (Schaefer et al. 2003; auch Box 2.4).

      Nahrung ist meist nicht gleichmäßig im Raum verteilt, sondern in patches konzentriert; dazwischen finden sich Zonen mit geringem oder fehlendem Nahrungsangebot. Solche patches («Flecken»; ein in diesem Zusammenhang wirklich gebräuchlicher deutscher Begriff existiert nicht) können etwa ein Fisch- oder Insektenschwarm, ein fruchtender Baum, eine kleine Ruderalfläche mit reifen Samen, eine Gruppe nektarspendender Blumen oder eine Muschelbank sein. Beutet ein nahrungssuchendes Tier einen patch aus, so nimmt die Nahrungsdichte ab und die Aufnahmerate sinkt. Bei Prädatoren kann es auch sein, dass die verbleibende Beute scheuer wird, was die Aufnahmerate noch zusätzlich schmälert. Irgendwann ist diese so gering, dass sich eine weitere Bearbeitung dieses patches nicht mehr lohnt, obwohl noch ein Rest von Nahrung vorhanden ist. Das Tier sucht sich besser einen neuen patch, der eine höhere Aufnahmerate erlaubt, auch wenn der Ortswechsel Zeit und Energie kostet. Zu entscheiden, wann dieser Wechsel angezeigt ist, ist ein Optimierungsproblem und als solches eng verwandt mit der Optimierung der Nahrungswahl, die im vorangehenden Kapitel behandelt wurde.

      Tatsächlich ist die «Optimal patch-use-Theorie» mit ihren Modellen zur selben Zeit und im gleichen Zug entwickelt worden. Zu den bahnbrechenden Arbeiten gehört jene von Charnov (1976b), der in Anlehnung an die ökonomische Theorie das marginal value theorem formulierte. Dieses bestimmt über ein einfaches grafisches Modell die optimale Zeitdauer in einem patch und macht, basierend auf einigen vereinfachenden Annahmen, folgende Voraussagen:

      1. In Abhängigkeit der Nahrungsdichte des patches gibt es einen Grenzwert für den Energiegewinn, den marginal value. Wenn er erreicht ist, sollte der patch verlassen werden, auch wenn der mögliche maximale Gewinn aus dem patch noch nicht erreicht